

Leseprobe: "Bitte berühre mich"/Shamrock (Simon beobachtet Alex und Felix heimlich) Ich habe beschlossen, heute in dieses Shamrock zu gehen. Auch wenn Alex mich nicht eingeladen hat. Es ist schließlich keine Privatveranstaltung. Jeder kann dort hingehen. Also wieso ich nicht? Die Website des Pubs gibt nicht viel her, also suche ich in Google nach Bildern. Die Bar ist klein und recht übersichtlich. Eine winzige Bühne. Wenn der Laden nicht bumsvoll ist, wird Alex mich dort leicht entdecken. Mir ist bewusst, was ich vorhabe. Ich stalke ihn. Das ist gruselig, das ist mir klar, aber alles in mir zieht mich dahin. Ich will ihn sehen. Felix. Ganz sicher wird Alex ihn heute dort treffen und deshalb hat er mich auch nicht eingeladen mitzukommen. Vielleicht ist es ein richtiges Date. Nur die beiden. Mir dreht sich der Magen um bei dem Gedanken. Aber dann fällt mir wieder ein, er wird die Leute von der Uni dort treffen. Also kein Date. Vielleicht sind Felix und Alex ja auch schon lange über die Dating-Phase hinaus. Nachdem ich die Location abgecheckt habe, überlege ich, ob ich eher früh oder spät dort hingehen soll. Später ist gut, weil dann mehr Leute da sind und ich in der Menge nicht auffalle. Jedoch besteht die Gefahr, nicht mehr eingelassen zu werden, wenn der Laden voll ist. Wenn ich früher hingehe, gleich wenn das Pub öffnet, dann könnte ich mir eine Ecke ganz hinten suchen und mich dort verborgen halten und warten, bis Alex kommt. Ich schaudere, als ich begreife, was ich da denke. Ich habe ernsthaft vor meinem Freund, meinem besten Freund, wie Alex mich nennt, meinem einzigen Freund hinterher zu schnüffeln wie ein Psychopath. Das sollte ich nicht tun, das ist mehr als creepy. Und wenn ich mich nur außen irgendwo auf die Lauer lege? Dann sehe ich sie, wenn sie kommen. Und wenn sie getrennt ankommen? Dann weiß ich nicht, welcher Kerl, der ins Shamrock geht, dieser Felix ist. Welche Pläne ich auch schmiede, ins Shamrock oder draußen, es bleibt Stalking. Es bleibt absolut inakzeptabel. Ich breche meine Internetrecherche ab und gehe duschen. Um halb sieben entschließe ich mich dazu, einfach mal los zu radeln und mir das Pub aus der Nähe anzusehen. Ob ich hinein gehen werde, lasse ich mir noch offen. In einer kleinen Querstraße, die fast genau auf das Shamrock zuführt, kette ich mein Rad an das Gitter eines Kellerfensters und gehe zu Fuß weiter. Vor der Eingangstüre herrscht bereits reges Gedränge. Scheinbar befindet sich das Pub im Keller, denn direkt nach dem Eingang sehe ich Treppen. Ein großer Mann, ganz in Leder steht davor. Der Türsteher nehme ich an. Sein Anblick jagt mir Gänsehaut über den Körper. An ihm vorbeizukommen, wird noch eine Herausforderung für mich werden. Er verteilt Stempel gegen Geld. Auf der anderen Straßenseite spaziere ich wie zufällig an dem Laden vorbei und komme ein paar Häuser weiter an einen kleinen begrünten Platz. Dort setze ich mich auf eine Bank, von der aus ich den Eingang wunderbar beobachten kann. Das Pub scheint voll zu werden. Immer mehr Leute strömen herbei. Ich verliere den Überblick. Alex habe ich noch nicht entdeckt. Ich streife die Kapuze meines Hoodies über meinen Kopf, mache mich so klein wie möglich. Ich muss nicht lange warten, bis mir mein Herz bis zum Halse schlägt. Alex‘ Jeep biegt langsam in die Straße ein. Er sucht einen Parkplatz. Wie immer hat er Glück und findet eine freie Lücke, bevor er an dem Plätzchen ankommt, auf dem ich sitze. Mein Herz rast. Es ist noch hell und ich bin gut zu sehen. Schnell ziehe ich die Kapuze so tief es geht in mein Gesicht. Alex ist allein. Sein Oberkörper verschwindet noch einmal tief in seinem Fahrzeug, nachdem er ausgestiegen ist und einen Moment später sehe ich seine Gitarre. Er wirft die Autotür zu und geht mit ihr direkt zum Eingang des Pubs. Will er hier auftreten? Damit habe ich nicht gerechnet. Jetzt muss ich da rein. Ich knibble an meinen Fingern und versuche mich zu beruhigen. Rede mir ein, dieses Pub ist schließlich jedermann zugänglich und es gibt keinen Grund, wieso ich es nicht besuchen dürfte. Ich habe mir selbst was vorgemacht. Es war von Anfang an sonnenklar, dass ich in diesen Club gehen werde. Und, falls Alex dort wirklich spielen sollte, will ich das auf keinen Fall versäumen. Aber wieso hat er mir nichts von seinem Auftritt gesagt? Wieso hat er mich nicht eingeladen, so einen Moment mit ihm zu teilen? Vielleicht bin ich ihm nicht mehr wichtig genug. Er will das vermutlich lieber mit seinem Lover teilen. Ich verscheuche diesen Gedanken, lasse ihn nicht zu stark werden. Ich will jetzt da runter. Also raffe ich mich auf. Straffe meine Schultern und gehe betont lässig zum Türsteher. Während er mir zehn Euro abknöpft, um nach drinnen zu gelangen, frage ich ihn beiläufig: „Ist es schon voll da unten?“ „Ja langsam wird’s.“ Seine Pranken verstauen mein Geld in einer Kiste. „Wann beginnen die Auftritte?“ Ich bin unruhig und ich fange an zu schwitzen. So nah bei ihm zu stehen ist mir extrem unangenehm. Zum Glück kommen nun ein paar Leute und stellen sich hinter mir an. Er sieht flüchtig auf seine Armbanduhr und nickt. „Dürfte jetzt dann gleich losgehen.“ Ich reiße mich zusammen, um nicht weg zu zucken, als er mir einen Stempel aufs Handgelenk drückt und nachdem das geschafft ist, betrete ich das Shamrock. „Viel Spaß!“ Ich habe befürchtet, die Treppe ist ein Präsentierteller, auf dem ich für alle in der Bar gut sichtbar bin, während ich sie hinuntersteige. Doch dem ist nicht so. Erst im unteren Viertel kann man in den Gastraum sehen. Ich ziehe die Kapuze noch einmal so weit wie möglich nach vorne und bleibe unten an der Treppe stehen. Es haben sich schon etliche Leute hier eingefunden. Ich scanne den Raum. Die Bühne kann ich von hier aus nicht sehen. Alex sehe ich auch nicht. Doch dann schlägt mir etwas mit voller Wucht in den Bauch. Was ich sehe, ist Puppengesicht. Er steht mitten in einer Gruppe aufgekratzter Menschen. Frauen und Männer, alle sind irgendwie alternativ gekleidet. Ich sehe rosa gefärbte Haare, Netzstrümpfe, Dreadlocks. Diese Gruppe sticht eindeutig aus der grauen Masse heraus. Auch ein paar Typen, die ich aus der Uni kenne, stehen dabei. Ist Puppengesicht Felix? Das darf nicht wahr sein! Das hieße, Alex hat ihn die ganze Zeit, in der wir uns kennen, gedatet. Mein Magen will sich nicht beruhigen. Ich überlege, ob ich wieder gehen soll, doch dann höre ich Jubelrufe. Die Gesichter der Menge wenden sich nach rechts, wo ich die Bühne vermute. „Yeaaahh! Alex!“, plärren die Leute und Puppengesicht am allerlautesten. Ich nutze die Gelegenheit, um in den Raum zu kommen, und auf die Bühne sehen zu können. Stelle mich hinter die erste Säule, die ich erreiche. Nun kann ich ihn sehen. Alex sitzt mit seiner Gitarre auf einem Stuhl, ein Mikrofon vor sich. Ein schrecklich quietschendes Geräusch quält meine Ohren und ich sehe Alex lachen. „Sorry, Leute, ich habs gleich.“ Ich kann Verlegenheit in seiner Stimme hören. Er fummelt am Mikro herum und das Quietschen hört auf. „Hallo Leute, mein Name ist Alex und ich spiele zum ersten Mal hier im Shamrock. Also seid gnädig, okay?“ Er lächelt unsicher und senkt seinen Kopf, um auf sein Tablet zu schauen. Seine offenen Locken fallen nach vorne. Meine Eingeweide fühlen sich an, als rühre jemand mit einem Kochlöffel darin herum. „Mein erster Song handelt von der Liebe!“ Alex lacht wieder und wirft den Kopf zurück. „Wie sollte es auch anders sein? Liebe ist die stärkste Emotion von allen und der Inhalt der meisten Songs. So auch von meinen.“ Er streift einmal kräftig über die Saiten und dann beginnt er mit seinem ersten Lied. Es ist der Song, den er mir an unserem ersten gemeinsamen Abend vorgespielt hat. Ich erkenne ihn wieder. Wie beim ersten Mal treibt er mir Tränen in die Augen. Heute lasse ich sie ungehemmt fließen, denn ihn hier mit Puppengesicht zu sehen, bricht mein Herz in tausend Stücke. Er macht das wirklich gut mit dem Singen. Ich bin ausgesprochen beeindruckt von seiner Darbietung. Nach anfänglicher Unsicherheit in seiner Stimme singt er kurz darauf kristallklar und fasziniert damit nicht nur mich, sondern das gesamte Publikum. Auch die Leute, die offensichtlich nicht zu seinen Anhängern gehören sind mucksmäuschenstill. Als er das Lied beendet hat, erfolgt augenblicklich tosender Beifall. Alex‘ Gesicht strahlt. Seine Augen funkeln. Und seine Wangen schimmern rosa. „Nun was Schnelleres, ihr sollt mir ja nicht einschlafen“, scherzt er und spielt zwei rockige Songs nacheinander. Ich hänge an seinen Lippen. Die Leute bei Puppengesicht sind eindeutig seine größten Fans und schreien und jubeln nach jedem Lied wie die Verrückten. Ich kann nicht aufhören ihn anzustarren. „Den nächsten Song habe ich erst vor Kurzem geschrieben. Er handelt davon, dass die Liebe manche Menschen einfach nicht will, so sehr sie auch danach suchen.“ Alex Gesicht wird ernst und er beginnt. Auch dieser Song ist schnell, fast wütend. Alex schlägt kräftig in die Saiten. Ich versuche den Text zu begreifen, aber ich kann den Sinn nur bruchstückweise erfassen. Nur die Zeilen des Refrains sind klar zu verstehen: Fuck you love, why do you treat me so?… how can you ignore me like this?… Fuck you love, why do you hate me so?... I think you just don‘t exist… Alex hat die Augen geschlossen und geht ganz in seinem Song auf. Er schreit die Message laut heraus. Beim letzten Ton öffnet er die Augen und holt tief Luft. Der bunte Haufen grölt, doch Alex wirkt bedrückt. Kann das wahr sein? Wurde dieser wundervolle Mensch noch nie geliebt? Kann Felix ihm dieses Gefühl nicht geben? In meinem Kopf fliegen die Gedanken. Er spielt noch drei weitere Songs, doch ich kann ihnen nicht mehr wirklich folgen. Was heißt das, er hat den Song erst vor Kurzem geschrieben? Vor einer Woche? Einem Monat? Einem Jahr? Jetzt bekommt er noch einmal dröhnenden Befall und dann ist es vorbei. Eine Frau mittleren Alters übernimmt die Bühne. Alex erscheint mit seiner Gitarre im Gastraum und begibt sich zu seinen Leuten. Wie gerne würde ich jetzt zu ihm gehen. Ihm sagen wie unglaublich bewegend sein Auftritt für mich war. Ihn fragen, was dieser Song zu bedeuten hat. Ihm sagen, dass er sehr wohl geliebt wird. Er lehnt das Instrument an die Wand und nimmt ein Glas entgegen, das ihm von der Frau mit den Dreads hingehalten wird. „Auf Alex!“, brüllt einer der Typen und hebt sein Bierglas. „Auf Alex!“, stimmen die anderen mit ein und dann wird getrunken und gelacht. Alex genießt sichtlich die Anerkennung, die ihm seine Freunde entgegenbringen. Und ich bleibe stumm. Still im Verborgenen. Nur Beobachter. Nicht mitten drin. „Also, du solltest deine Songs echt mal irgendwo einschicken“, plärrt eine der Frauen laut über die Countrymusik hinweg, die die Sängerin auf der Bühne nun zum Besten gibt. Alex wirft den Kopf zurück und lacht sein Lachen. Ich fühle mich so unendlich weit weg. Seine Wangen sind noch immer gerötet und in seinen Augen glitzern unzählige Lichter. Jetzt legt Puppengesicht den Arm um seine Taille und zieht ihn schwungvoll an sich. Mein Herz zuckt zusammen. Meine Befürchtung ist bestätigt. Er ist es wirklich all die Zeit gewesen. Mein Magen tut mir so weh. Ich möchte mich einfach nur in meinem Bett zusammenrollen. Puppengesicht drückt Alex immer wieder an sich. Es hat etwas Besitzergreifendes. Entsetzt schaue ich zu, wie die beiden vertraut lachen und trinken, scherzen und sich necken und möchte auf der Stelle sterben. Ich beobachte, wie sie der Country-Frau Beifall klatschen und was ich noch sehe, schneidet mir endgültig das Herz aus meiner Brust. Alex kuschelt sich in die Arme von Puppengesicht und sieht überglücklich aus. Felix schiebt ihn immer wieder von sich weg, um ihn zu küssen. Zieht ihn dann wieder an sich heran, um ihn zu drücken. Alex scheint das alles, über die Maßen zu genießen. Er streicht gedankenverloren mit der Hand über Felix‘ Arm und drückt seinen Kopf an seine Brust. Ich habe keine Ahnung, warum ich mir das ansehe. Wieso verschwinde ich nicht einfach? Während ich den Turteltäubchen zusehe, wie sie sich halb auffressen, muss ich wieder an die Zeilen in Alex Lied denken. Fuck you love… How can you ignore me like this?… Er hat gesagt, er hätte den Song erst vor Kurzem geschrieben. Er kann nicht von Felix handeln. Das kann ich mir nicht vorstellen. Es wirkt nicht, als habe er Alex so sehr verletzt. Es wirkt vielmehr, als würde er ihn glücklich machen. Oder hat Alex den Text für den Freund seiner Schwester geschrieben? Kann es sein, dass er diesem Typen bis heute nachtrauert? Alex trinkt kein Bier, er trinkt Wein. Und je mehr er betrunken wird, desto mehr kuschelt er sich an Felix. Es wirkt schon fast verzweifelt, wie er sich an ihn klammert. Ich flehe das Universum an, ihn endlich zur Toilette zu schicken. Genug getrunken hat er jedenfalls. Wenn er weg ist, kann ich mich unbemerkt aus dem Staub machen und mich diesem Anblick endlich entziehen. Meine Bitte wird schließlich erhört. Alex schält sich aus Felix‘ Umarmung und macht sich auf in den hinteren Teil des Pubs, wo ich die Toiletten vermute. Mit steifen Knien trete ich hinter der Säule hervor und schleiche zur Treppe. Das Band, das mich mit Alex verbindet, reißt mit jeder Stufe, die ich nehme, weiter ein. Ich steige langsam, will nicht weg von ihm. Ihn nicht in seiner Blase aus Freunden zurücklassen, zu der ich nicht gehöre. Ich werde ihn nie erreichen. Er wird mir nie gehören. Niemals. Ich bleibe stehen. Kann mich so schwer aufraffen, weiterzugehen und ihn Felix zu überlassen. Der Himmel ist dunkel, als ich schließlich auf die kleine Straße trete. Ein paar Raucher stehen vor dem Eingang und unterhalten sich leise. Geknickt laufe ich zu meinem Fahrrad und verfluche mich dafür, hergekommen zu sein. Wieso habe ich mir das angetan? Ich werde ihn nie wieder ansehen können, ohne daran zu denken, wie er selig in Felix‘ Armen liegt. Plötzlich wird die Musik hinter mir wieder lauter. Die Tür vom Pub ist erneut geöffnet worden. Reflexhaft schaue ich mich um und sehe Alex mit Felix Arm in Arm, das Shamrock verlassen. Felix trägt Alex‘ Gitarre und sie gehen in Richtung seines Wagens. Ich schleiche mich zurück bis zur Straßenecke, von der aus ich sie weiter beobachten kann. Alex hält den Autoschlüssel in der Hand. Felix wird ihn doch nicht mehr fahren lassen? Ich warte und sehe was passiert, bereit einzugreifen, falls Alex sich wirklich ans Steuer setzten sollte. „Du wirst nicht mehr fahren!“, höre ich Felix sagen. „Kommt nicht infrage. Gib mir die Schlüssel!“ „Ich kann schon noch fahren!“ Alex sperrt den Wagen auf. „Du wirst nicht mehr fahren!“, bleibt Felix energisch. Ein Pluspunkt für ihn. „Jetzt los, gib schon her!“ Felix dreht die Schlüssel unsanft aus Alex‘ Fingern, der seine Hand trotzig so weit in die Höhe hebt, wie er kann. Das Puppengesicht wirkt verärgert. Felix öffnet die Beifahrertür und wirft die Gitarre in die Fahrerkabine. „Hey!“, plärrt Alex. „Sei vorsichtig! Die bedeutet mir viel!“ Felix ignoriert seine Worte und schmeißt die Tür zu. „Aber du kannst doch fahren!“, bettelt Alex, schenkt Felix einen Hundeblick, den ich bis zu mir sehen kann und trippelt von einem Fuß auf den anderen, um nicht umzufallen. „Nein, ich kann auch nicht mehr fahren. Der Wagen bleibt hier stehen. Den kannst du morgen abholen.“ Der Verriegelungston schallt über die Straße. „Wieso hast du dich denn so volllaufen lassen?“ Felix‘ Gesicht ist grantig. „Und wie komme ich jetzt nach Hause?“ Alex wirkt verloren. „Ich ruf uns ein Taxi.“ Uns. Ja, er hat uns gesagt. Mein Herz fühlt sich an, als würde eine grobe Hand zerquetschen, was davon noch übrig ist. Felix holt sein Handy aus der Tasche und wählt. Dann legt er wieder seinen Arm um Alex‘ Taille und zieht ihn mit sich Richtung Leopoldstraße. Ich möchte Ihnen am liebsten folgen, doch was sich den restlichen Abend zwischen den beiden abspielen wird, muss ich nun meiner Fantasie überlassen. Auf dem Weg nach Hause wechseln sich verschiedenste Szenenfetzen in meinem Hirn ab. In einem Moment sehe ich die beiden in Alex Bett beim leidenschaftlichen Sex. Im nächsten, wie sich Felix vor dem Hotel von Alex verabschiedet. Dann sehe ich sie im Fahrstuhl, wie sie sich küssen und Felix ihn in seine Suite begleitet. Von meinem Nachhauseweg bekomme ich rein gar nichts mit. Ich weiß nicht, ob ich Alex morgen sehen kann. Ob ich es ertrage, zu wissen oder besser gesagt nicht zu wissen, was heute Nacht passiert ist. Und in vielen Nächten davor möglicherweise auch. Ganz sicher sogar. Ich lasse die Tränen einfach fließen. Die Mitbewohner meines Hirns scheinen sich an meinen permanent aufgewühlten Zustand gewöhnt zu haben. Keiner von ihnen rät mir etwas, ermahnt mich oder gibt sonst irgendetwas zum Besten. Sie halten sich zurück. Vielleicht schlafen sie. Ich weiß nicht, ob ich das gut oder schlecht finden soll. Ein wenig Beistand könnte ich jetzt wirklich gut gebrauchen. Trinkt Alex im Hotel weiter, wird er mir morgen wahrscheinlich sowieso absagen. Wenn Felix bei ihm übernachtet, wird er mir unweigerlich auch absagen. Ich verbringe die Nacht im Olympiapark. Schlafen kann ich nicht. Ich zermartere mir meinen Kopf. Ich habe den Zeitraum versäumt, in dem ich ihm hätte meine Gefühle offenbaren können. Jetzt ist es zu spät. Er gehört einem anderen. Warum sollte Alex mich überhaupt noch sehen wollen? Er wirkt so glücklich mit Puppengesicht. Und wieso trifft er sich überhaupt mit mir? Pflichtbewusstsein? Tue ich ihm etwa leid? Weil ich außer ihm niemanden habe? Trifft er sich aus Mitleid mit mir? Als ich die Augen aufschlage, ist es taghell. Ich muss eingeschlafen sein, mitten im Park. Mir ist kalt und mein Körper fühlt sich steif an. Es sind keine Menschen zu sehen, nicht einmal Leute, die ihre Hunde ausführen. Ich hole mein Handy heraus, es ist halb fünf. Frierend rapple ich mich auf und gehe nach Hause. Nutze die frühe Stunde, um meinen ausgekühlten Körper unter heißes Wasser zu stellen.

Leseprobe: "Bitte berühre mich"/Liebesbrief (Brief an Alex, in dem Simon erklärt, warum er nicht angefasst werden kann) ......Iris scheint immer zu wissen, was sie sagen muss. Sie bringt es fertig, meine panische Stimmung in unserem halbstündigen Gespräch zu besänftigen und rät mir, um Alex zu kämpfen. Sie beschwört mich, ihm endlich meine Gefühle für ihn zu gestehen. Wenn er mich liebt, sagt sie, dann wird er diesen Tanzheini sausen lassen und zu mir zurückkommen. Sie gibt mir Hoffnung und Zuversicht. „Aber was, wenn er gar nichts mehr mit mir zu tun haben will, wenn er von meiner DIS erfährt?“, frage ich sie. „Dann sage ihm eben nicht alles. Sag ihm nur das von deinem Trauma, aufgrund dessen du nicht angefasst werden möchtest.“ Ich schlucke. „Von der DIS kannst du ihm später erzählen, wenn du genug Vertrauen zu ihm aufgebaut hast. Aber sage ihm unbedingt, wie verliebt du in ihn bist.“ Das ist ein sehr guter Kompromiss, wie ich finde. Ich kann ihm sagen, was ich für ihn empfinde, ohne ihm die ganze Wahrheit zu verraten. So könnte es für mich funktionieren. Ich bedanke mich vielmals bei Iris für ihren tollen Vorschlag und beschließe genau das zu tun. Dann setze ich mich an meinen Schreibtisch und beginne zu schreiben. Lieber Alex, ich schreibe dir diesen Brief, weil ich das, was ich dir sagen möchte, nicht sagen kann. Ich weiß, es ist altmodisch und vielleicht empfindest du es als kitschig, aber einen anderen Weg kann ich nicht nehmen. Du hast meine Signale damals nicht falsch gedeutet. Der Grund, warum ich dir nachgestellt habe, war genau der, den du vermutet hast. Es tut mir sehr leid, dich verletzt zu haben, doch das hat einen Grund. In meiner Kindheit ist etwas Schlimmes mit mir passiert und aus diesem Grund kann ich leider nicht das Leben führen, das ich gerne möchte. Ich habe ein schweres Trauma erlitten. Mein Gehirn hat irgendwann beschlossen, die schlimmen Dinge zu verdrängen, die mir zugestoßen sind. Und deshalb muss ich dich bitten, mich auf keinen Fall danach zu fragen, wenn du diesen Brief gelesen hast. Ich hoffe, du verstehst das. Es darf mich nichts daran erinnern. Das ist wichtig. Der gesamte Therapieerfolg, den ich gemacht habe, könnte verloren gehen. Es gibt sogenannte Trigger, die dies auslösen können. Zum Beispiel dunkle Räume, ein Geruch oder angefasst zu werden. Deshalb hast du den Nasenstüber bekommen an unserem ersten Abend bei dir, weil ich dachte, du fasst mich an. Es tut mir sehr leid. Du hast nichts falsch gemacht. Noch nie. Du bist der tollste Mensch, den ich kenne. Doch meine Angst, angefasst zu werden ist sehr groß, weil eine einzige Berührung alles zurückbringen kann, was ich vergessen habe. Also bitte frage mich nicht danach und fass mich nicht an. Ich bin noch nie von einem Menschen berührt worden und leide sehr darunter. Ich führe ein zurückgezogenes und einsames Leben. Das weißt du ja. Aber der Wunsch nach einem Menschen, der mir nahesteht, ist immer da, nur weiß ich, dass ich das niemals haben kann. Also halte ich mich von den Menschen fern. Doch dann kamst du in mein Leben und von dir kann ich mich nicht fernhalten. Vom ersten Moment an, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, wollte ich dich in meinem Leben haben. Wenigstens wollte ich dich beobachten. Deshalb bin ich dir überallhin gefolgt und hab jede Gelegenheit genutzt, dich zu sehen. Alex, bitte verzeih mir, dass ich dich in dem Glauben gelassen habe, ich sei hetero. Doch das war der beste Weg, ohne Erklärung nicht von dir berührt zu werden. Glaube mir, ich wünsche mir nichts sehnlicher, als in deinen wunderschönen Armen zu liegen. Nichts würde mich glücklicher machen, als von deinen Händen gestreichelt zu werden, aber ich kann nicht. An dem Abend, nachdem wir den Kuchen gebacken haben, bist du mir so nah gekommen, ich wurde fast getriggert. Deshalb habe ich die Auszeit genommen, um mich wieder zu fangen. Du wirst fragen, warum ich dir das alles nicht schon früher gesagt habe. Ich hatte Angst. Meine Angst, dich zu verlieren, ist sehr groß, weshalb ich es lieber in Kauf genommen habe, dich zu belügen und dir wehzutun. Bitte verzeih mir das. Zu wissen du datest einen anderen, bringt mich fast um den Verstand. Ich bin wahnsinnig eifersüchtig. Zu wissen, du gibst ihm das, was ich so gerne von dir hätte, zerreißt mich. Wenn ich daran denke, er liegt gerade in deinen Armen und nicht ich, drehe ich fast durch. Zu wissen, er gibt dir das, was ich dir nicht geben kann, ist noch schlimmer. Ich möchte derjenige sein, der das tut und nicht ein anderer. Dich zu verlieren ist eine Vorstellung, die ich nicht ertragen kann. Aus diesem Grunde habe ich dir mein psychisches Problem verheimlicht. Und aus demselben Grund erzähle ich dir nun davon. Ich habe Angst, du willst nichts mehr mit mir zu tun haben, wenn du von meinem Dachschaden erfährst. Diese Angst ist noch immer da. Sie frisst mich auf. Warum sage ich es dir nun dennoch? Ich habe etwas verstanden. Ich werde niemals in meinem Leben einen Menschen haben, der zu mir gehört, wenn ich nicht ehrlich bin. Ich brauche jemanden, der mich versteht und mich so annimmt, wie ich bin. Der Rücksicht nehmen kann und zurückstecken. Ich weiß, das ist sehr viel verlangt, doch ich muss es versuchen. Die Angst, du könntest dich nun von mir abwenden, ist riesig, aber ich habe die Hoffnung, du könntest ein solcher Mensch sein. Wenn du diesen Brief gelesen hast, dann lies ihn noch einmal und ein weiteres Mal, bis du für dich entscheiden kannst, was du nun tun möchtest. Willst du unsere Freundschaft weiterführen oder nicht? Schreib mir einfach ein Ja oder Nein auf Whats App, damit ich Bescheid weiß. Ich weiß, das hört sich kindisch an, aber dir bei einem Nein in die Augen sehen zu müssen, würde ich nicht überleben. Du wirst mich auch weiterhin nicht anfassen können, aber du sollst wissen, ich wünsche mir nichts sehnlicher. Du sollst wissen, wie wunderschön ich dich finde und dass ich schrecklich verliebt in dich bin, vom ersten Tag an. Simon In meinem Mund kann ich Blut schmecken. Ich habe meine Lippen blutig gebissen beim Schreiben. Langsam falte ich die Seiten zusammen und stecke sie in einen Briefumschlag. Ich wische über meine Augen, dann schreibe ich „Alex“ auf das Kuvert und klebe es zu. Ich werde ihm den Brief morgen geben.

Leseprobe: "Bitte Berühre mich"/Wechsel (Simon will Alex endlich von seiner Dissoziativen Persönlichkeitsstörung erzählen, doch es kommt anders) Simon Letzte Nacht habe ich Alex noch gefragt, ob er übermorgen Zeit für mich hat. Ich muss es endlich tun. Muss ihm endlich sagen, warum ich ihn nicht an mich herangelassen habe. Ihm von meinen Anteilen erzählen, von meinen Ängsten ihn deswegen zu verlieren. Nach der gestrigen Nacht und Alex‘ fulminantem Liebesgeständnis bin ich zuversichtlich, er kann die Besonderheit meiner Psyche akzeptieren. Das muss einfach so sein. Die Alternative wäre zu schrecklich. Und ich denke nicht nur für mich. Auch er würde etwas verlieren, was ihm wichtig ist. Mich! So wie er gestern gesprochen hat, bedeute ich ihm wohl viel. Das wird er nicht einfach wegwerfen. Oder doch? Noch immer bin ich hin und hergerissen. Aber ich muss es ihm irgendwann sagen. Daran führt kein Weg vorbei. Wenn ich nur nicht so ein entsetzlicher Feigling wäre. Doch ich denke man darf schon ein wenig feige sein, wenn alles auf dem Spiel steht. Aber ich habe mich entschlossen, auch wenn ich mir vor Angst fast in die Hosen mache. Heute muss ich arbeiten, aber morgen werde ich es ihm definitiv sagen. Fabi steht gestiefelt und gespornt in der Küchentüre, als ich ins Café komme, bereit zum Abflug. Sie drückt mir meine Schürze in die Hand und ich muss grinsen, weil sie sie schon aus meiner Schublade genommen hat. „Ich muss weg, hab ein Date!“ Sie wirkt gestresst. „Du bist zu spät!“ „Sorry, das stimmt. Tut mir leid!“ „Und mein Bier hab ich auch noch nicht bekommen!“, erinnert sie mich an meine Pflicht. „Oh, ja, tut mir leid, aber in letzter Zeit war ich so eingespannt. Das bekommst du noch versprochen.“ „Wie wäre es mit morgen nach der Arbeit?“ „Morgen kann ich leider nicht, da hab ich schon was sehr Wichtiges vor.“ Fabi schmollt und geht zum Ausgang. „Aber da kommst du nicht raus. Ich werde dich solange nerven, bis du mal einen Abend Zeit für mich hast.“ Sie schenkt mir einen koketten Blick und weg ist sie. Da ich meine Schürze schon in der Hand habe, binde ich sie mir gleich um und spüle erst einmal die vielen schmutzigen Gläser und Tassen, die mir Fabi hinterlassen hat. Dabei driften meine Gedanken wieder zu Alex und meinem bevorstehenden Geständnis. Soll ich mit der Information einfach sachlich herausplatzen? So wie man ein Pflaster mit einem Ruck abzieht? Oder soll ich versuchen, ihn behutsam darauf vorzubereiten? Schließlich erhält er eine Information über mich, die ihn vielleicht umhaut, die möglicherweise alles zwischen uns verändert. Resigniert lasse ich das Handtuch sinken. Ich habe keine Ahnung, welche die beste Methode wäre. Auch Iris hat mir dahingehend keinen vernünftigen Rat geben können. Sie sagte, ich solle es so machen, wie es sich für mich am besten anfühlt. Was für ein Rat ist das denn? „Eine Chai-Latte bitte!“, reißt mich ein Typ aus meinen Gedanken, der am Tresen steht. „Und ein Croissant dazu bitte.“ Während ich seine Bestellung zubereite, kommt Anne abgehetzt ins Café gestürmt. Kaum hat sie den Gastraum betreten, ruft sie mir schon von der Tür aus zu. „Es tut mir ja so leid. Ich hab den Bus verpasst und der nächste kam dann ewig nicht!“ Sie eilt zu mir hinter die Theke und zieht ihre Schublade auf. Verwirrt sehe ich ihr dabei zu und frage mich, was sie da macht. „Du kannst jetzt los, ich bin ja jetzt da. Vielen Dank, dass du gewartet hast. Und sorry, dass du länger bleiben musstest.“ Jetzt verstehe ich. Sie ist der Meinung, es sei ihre Schicht. „Das ist meine Schicht, du hast dich im Tag geirrt!“ Sie sieht mich an wie ein Auto. „Nein, heute bin ich eingeteilt. Du morgen, soweit ich mich erinnere.“ Sie schwingt die Türen zur Küche auf und geht zum Einsatzplan, der an der Küchenwand aufgehängt ist. Ich stelle dem Gast seine Chai-Latte hin und lege ein Croissant auf einen Teller. „Ja, ich hab recht!“, höre ich es aus der Küche. „Heute bin ich dran! Und du morgen!“ Ich kassiere den Mann ab und flitze zu ihr. „Schau hier!“ Annes Zeigefinger zeigt auf den heutigen Tag. Und sie hat recht. Sie ist für heute eingeteilt, nicht ich. „Da hast du wohl was mit deinen Terminen durcheinandergebracht!“ Noch etwas verdutzt trete ich kurz darauf auf die Straße. Nun habe ich Zeit, mir über mein Gespräch mit Alex in aller Ruhe Gedanken zu machen und die Möglichkeit, es bereits heute hinter mich zu bringen. Ich schwinge mich auf mein Rad und fahre direkt in den Luitpoldpark. Unter einer Kastanie lasse ich meinen Gedanken freien Lauf. Peter drückt sich am Ausgang herum und wartet geduldig von mir, herausgelassen zu werden. Er war schon so lange nicht mehr im Außen, doch heute habe ich keine Zeit zu verlieren. Heute werde ich womöglich den gravierendsten Schritt in meinem bisherigen Leben machen, der mich hoffentlich Alex ein Stück näherbringt. Ich lehne meinen Kopf an den Baumstamm und die Sonne brennt in mein Gesicht. Ihre Wärme heizt meine Gefühle noch mehr an. Da ist eine intensive Euphorie. Mit geschlossenen Augen stelle ich mir das Gefühl vor in Alex‘ Armen zu liegen. Seine Haut zu berühren, sein Gesicht zu streicheln. Mein Herz hüpft aufgeregt und mein Magen zieht sich zusammen bei dieser Vorstellung ihn endlich berühren zu dürfen. Aber die sengenden Strahlen der Sonne fachen auch meine Angst an. Meine Feigheit. Immer wieder züngelt sie in meiner Brust auf. Was wenn er damit nicht klarkommt, dass ich nicht nur Simon bin? Ich habe schreckliche Angst davor, wie Alex reagieren wird, wenn ich ihm sage, dass ich nur einer von vielen bin, die in diesem Körper wohnen. Ich habe schon so viele Menschen in meinem Leben getroffen, die sich augenblicklich von mir distanzierten, als sie das mitbekamen. Doch dann ist in mir wieder diese unbändige Freude. Die Vorfreude darauf, mich endlich von dieser Last zu befreien, ihn nicht mehr anlügen zu müssen. Nicht mehr schweigen zu müssen, wenn ich eigentlich etwas sagen sollte. Nicht mehr immerzu auf der Hut sein zu müssen, dass er mir zu nahekommt. Und von der Last, ihn ständig diesen Enttäuschungen auszusetzen, weil ich mich ihm immer wieder entziehe. Keine Ausreden mehr. Nie mehr. Wie wundervoll wäre es, wenn ich ihm endlich vollkommen vertrauen könnte. Wenn ich keine Angst mehr haben müsste, er geht. Wenn ich wüsste, er bleibt bei mir, trotz der anderen. Er die Wahrheit kennt und ich mich bei ihm sicher fühlen könnte. Die Vorstellung mich endlich vollends auf ihn einlassen zu können, lässt mein Herz singen. Gestern hat er mir gesagt, dass er sich das wünscht. Und ich wünsche mir nichts mehr als das, seit ich ihn das erste Mal gesehen habe. Doch wird er das alles, was er gestern zu mir gesagt hat, noch immer so empfinden, wenn er weiß, ich bin nicht etwa facettenreich, sondern vielmehr verrückt? Wenn er erfährt, dass das Geheimnisvolle an mir schlicht und ergreifend die Tatsache ist, dass sich in meinem Kopf noch andere tummeln. Dass der Ausdruck in meinen Augen, der ihn so fasziniert, nur das Ergebnis davon ist, dass ich Stimmen höre. Ron war schon eine ganze Weile nicht mehr an der Pforte. Ich habe ein langes Gespräch mit ihm geführt, wie so viele vorher und er hat jetzt endlich zwei Dinge eingesehen. Zum einen, dass Alex für mich keine Gefahr darstellt. Hat er nie. Er kennt ihn jetzt seit vier Monaten und weiß, dass er mir nicht wehtun will. Und zweitens scheint er endlich verstanden zu haben, dass ich es will und er mich nicht vor Alex beschützen muss. Ich fühle mich bereit. Ich habe jetzt das nötige Vertrauen in Alex‘ Liebe zu mir. Seine Worte wirkten aufrichtig und ich konnte den Schmerz dahinter förmlich spüren. Ich denke er liebt mich wirklich. Nun halte ich es keine Sekunde länger aus. Ich muss es ihm jetzt sagen. Jetzt gleich, sonst verlässt mich noch der Mut. Ich weiß, Alex hat heute nichts vor. Er wird ganz sicher zu Hause sein. Also werde ich jetzt zu ihm fahren. Ich habe zwar noch immer keine Ahnung wie ich es anfangen soll, doch das wird sich dann schon irgendwie ergeben. Nicht einmal zehn Minuten später stehe ich vor seinem Haus. Einen tiefen Atemzug noch, dann drücke ich die Klingel. Die Tür geht summend auf. Alex hat nicht durch die Sprechanlage gefragt, wer kommt, das ist ungewöhnlich. Während ich auf den Fahrstuhl warte, reibe ich meine verschwitzen Hände an meiner Jeans trocken. In Gedanken gehe ich noch einmal die Sätze durch, die ich mir während der kurzen Fahrt zurechtgelegt habe und mein Herz klopft irrsinnig. Ich habe das Gefühl man kann es von außen an meinen Brustkorb pochen sehen. Endlich öffnen sich die Aufzugtüren und mein Gesicht blickt mich an. Wieso sind in Fahrstühlen immer Spiegel angebracht? Ich sehe ängstlich aus. Als wäre ich auf dem Weg zum Schafott. Also zwinge ich mich meine Mundwinkel anzuheben, schließlich möchte ich Alex nicht verschrecken, indem ich hier unangemeldet mit einer Trauermiene auftauche. Die kurze Zeit, die der Lift braucht, um mich in die elfte Etage zu bringen, zieht sich quälend lang. Meine Handflächen schwitzen und mein Hals schwillt immer mehr zu. Alex steht lächelnd im Türrahmen. Doch sein Gesicht wird schlagartig schneeweiß, als er mich sieht. Ganz eindeutig hat er jemand anderen erwartet. Seine Augen weiten sich und das Lächeln in seinem Gesicht stirbt. Nicht die Reaktion auf meinen Besuch, die ich mir erhofft habe. Ich fühle mich wie ein Störenfried, ein Eindringling, der ganz und gar nicht willkommen ist. Mein Herz rast. Ich kann nicht aus dem Fahrstuhl steigen. Stehe reglos in der Tür. „Ich zahl heute!“, höre ich eine Männerstimme aus seinem Appartement rufen. Und dann erscheint Felix‘ Kopf im Türrahmen. Nun hört meine Welt auf, sich zu drehen. Für einen Bruchteil einer Sekunde kann ich nicht begreifen, was dieses Szenario zu bedeuten hat. Doch als es sich mir erschließt, fällt der Vorhang und ich kann nur noch hören, wie Alex schreit. Alex „Nein! Simon! Warte!“ Die Fahrstuhltüren schließen sich und nackte Panik befällt Alex‘ ganzen Körper. „Lass mich los!“, brüllt er außer sich und bietet seine gesamte Kraft auf, um sich von Felix loszureißen. „Simon!“ Seine Stimme überschlägt sich und heiße Tränen laufen über sein Gesicht. „Lass mich los! Lass mich los!“, doch Felix hält mit beiden Händen seine Arme fest. Wie in zwei eisernen Schraubzwingen sind sie gefangen. „Lass ihn gehen“, sagt er ruhig und drückt Alex‘ zappelnden Körper an sich. Doch Alex windet verzweifelt seine Arme hin und her und versucht seine Handgelenke aus Felix‘ Umklammerung zu befreien. „Lass looooos!“, schreit er so laut, dass er husten muss. „Jetzt beruhig dich bitte!“ Felix wirkt beherrscht, doch Wasser steht in seinen Augen. Alex‘ Augen dagegen sind schreckensgeweitet und er versucht es mit Vernunft. „Felix, bitte lass mich los, ich muss ihm nach, sonst passiert was Schlimmes!“ „Der packt das schon.“ Nun gibt Alex auf, sich Felix zu widersetzen. Er hat keine Chance sich aus seinem Griff zu befreien. Schluchzend lässt er seinen Körper kraftlos auf den Boden sinken. „Bitte lass mich doch los“, jammert er und versucht mit einem herzerweichenden Blick Felix zu überzeugen. „Du bist so ein Mistkerl“, zischt Felix und schließt die Augen. Dann lässt er seine Arme los. Endlich frei kommt wieder Leben in Alex. Er schnappt sich seine Schlüssel und sein Handy und rennt aus der Wohnung, ohne sich noch einmal zu Felix umzudrehen. Wilde Panik durchströmt seinen Körper, während er mehrere Stufen auf einmal nimmt, um nach unten zu gelangen. Das hätte nicht passieren dürfen. Simon hätte nie erfahren sollen, dass er sich noch immer mit Felix trifft. Wieso hat er das überhaupt gemacht? Das war so dämlich. So unglaublich dämlich. Und jetzt wird er dafür bezahlen. „Simon!“, brüllt er durch den Hausflur. „Simon warte!“ Unten angekommen, reißt er die Haustür auf und sieht sich schnaufend in alle Himmelsrichtungen um. „Simon!“ Er muss ihn finden. Ihm alles erklären. Mit ihm reden. So darf es nicht enden. Die Tränen fließen unaufhörlich aus seinen Augen und verschleiern seine Sicht. „Simon!“ Das Appartementhaus seines Vaters ist am Rand eines kleinen Parks gebaut und Simon könnte jede Richtung genommen haben. Hektisch sucht er die Umgebung nach seinem Fahrrad ab. Es steht angekettet neben der Tiefgaragenzufahrt. Also muss er noch in der Nähe sein. „Simon!“, schreit er wieder und kann das Blut in seinen Ohren rauschen hören. Sein Gesicht ist nass und plötzlich befällt ihn eine schreckliche Ohnmacht. Sein eben noch gespannter Körper verliert jede Kraft und sinkt in sich zusammen. „Simon, wo bist du?“, kommt es noch einmal leise aus seinem Mund. Es ist nicht mehr als ein Wispern. Hinter ihm fällt die Haustür ins Schloss und er fährt herum. Er hofft Simon zu erblicken, doch seine Augen treffen in die von Felix. Ein schmerzhafter Stich fährt ihm ins Herz. Felix bedenkt ihn mit einem traurigen Blick, bleibt jedoch nicht stehen. „Jetzt wirst du die Pizza doch selber zahlen müssen“, sagt er zynisch und geht an ihm vorbei die Straße hinunter. Alex weiß, er könnte ihm nichts sagen. Es gibt nichts zu sagen. Bekümmert sieht er Felix nach und schluckt mehrere Male, doch der dicke Kloß in seinem Hals will nicht verschwinden. Bevor er wieder ansetzen kann, weiter nach Simon zu rufen, hört er ein leises Wimmern. Seine Ohren stellen sich unwillkürlich auf und er versucht zu orten, woher das Wimmern kommt. Es kommt aus der Auffahrt der Tiefgarage. Langsam geht er ein paar Schritte darauf zu und dann kann er ihn sehen. Simon sitzt zusammengekauert auf dem nackten Asphalt. Sein Kopf ist zwischen seinen Knien eingeklemmt und er jammert leise. Die Erleichterung, die Alex verspürt ist gewaltig. Jetzt kann er ihm Felix‘ Anwesenheit erklären. „Simon?“, spricht er ihn leise an, doch er reagiert nicht. „Simon!“, versucht er es etwas lauter und da hebt er den Kopf. Sein Gesicht ist tränenverschmiert und aus seiner Nase läuft durchsichtiger Schleim. „Simon bitte hör mich an. Das was du gesehen hast… “ „Bist du Alex?“, unterbricht Simon ihn und wischt mit seinem Hemdsärmel den Rotz von seiner Nase. Alex‘ Herz macht einen Sprung außer der Reihe und seine Augen weiten sich. „Du bist doch Alex, oder?“ Alex starrt seinen Freund sprachlos an. Tränen schießen erneut in seine Augen und sein Herz zuckt, als er begreift, dass er Simon in eine schwere psychische Krise gestürzt hat. „Bitte hör mich an! Ich kann das erklären, es ist nicht so, wie du denkst. Bitte Simon!“ „Kannst du mich nach Hause bringen?“, fragt Simon weinerlich, ohne auf das einzugehen, was Alex eben gesagt hat. „Ich weiß nicht, wo ich bin.“ Sein Gesicht sieht höchst verzweifelt aus und er schaut Alex von unten her an. „Bringst du mich nach Hause bitte?“ Alex zittert am ganzen Leib. Er hat keine Ahnung, was er tun soll, denn in seinem Kopf ist nur Chaos. Verzweifelt versucht er einen vernünftigen Gedanken zu finden, der im verrät, was er mit Simon anstellen soll. Soll er ihn in ein Krankenhaus bringen? Ganz offensichtlich hat er komplett die Orientierung verloren. Wacklig geht er in die Hocke, um mit ihm auf einer Höhe zu sein und entscheidet, ihn erst einmal in seine gewohnte Umgebung zu bringen. Vielleicht würde er sich dort wieder erholen und sich wieder normal verhalten. „Ich bringe dich nach Hause, ja.“ Er presst sich die Hand vor den Mund, um nicht laut loszuheulen. Plötzlich springt Simon wie eine Feder in die Höhe und lacht ihn glücklich an, während auf seinen Wangen noch die Tränen laufen. Vor Alex‘ Augen tanzen weiße Lichter und er braucht einen Moment, bis er sich wieder aufrichten kann. Was um Himmels Willen ist hier los? Während dessen wartet Simon ungeduldig von einem Fuß auf den anderen tretend. „Ich hab mich irgendwie verlaufen, glaub ich.“ Alex presst nur die Lippen aufeinander. „Weißt du, wo ich wohne?“ „Ja, das weiß ich“, bringt Alex nur mühsam hervor und wischt sich mit der Hand zum x-ten Mal über die Augen, um klar sehen zu können. „Wir fahren mit dem Auto, ja?“ „Okay!“ Simon zuckt gleichgültig die Schultern. Hektisch kramt Alex seinen Schlüsselbund aus der Hose und öffnet mit einem Druck auf die Fernbedienung das Tiefgaragentor. Erstaunlich leise hebt sich die metallene Wand vor ihnen und Simon folgt ihr begeistert mit seinen Blicken. Ein lautes Woahhhh!, entfährt ihm und Alex schließt für einen Moment die Augen. Was hat er Simon nur angetan? „Ist dein Auto da unten?“ Alex nickt nur mit dem Kopf, antworten kann er ihm nicht. Mit weichen Knien läuft er los, die Auffahrt hinunter und Simon folgt ihm auf dem Fuße. Etwa auf der halben Strecke ergreift Simon plötzlich seine Hand und augenblicklich hämmert sein Herz, als möchte es ihm aus der Brust springen. In diesem Moment weiß er, dieser Mensch an seiner Seite, der seine Hand hält, wie ein kleiner Junge, die Hand seiner Mutter, ist nicht Simon. Erneut schießen Tränen in seine Augen und er hält Simons schlaffe Hand fest umklammert. Endlich darf er ihn berühren. Doch dies ist keine schöne Erfahrung. Sie ist entsetzlich. Als sie auf seinen Jeep zugehen, fängt Simon mit großen Augen an zu staunen. „Der Wahnsinn! Das ist dein Auto?“ Alex nickt wieder und versucht mit dem Heulen aufzuhören. Fühlt sich, als befände er sich in einem schlechten Horrorfilm. Er hat Simon völlig verstört mit seiner Unaufrichtigkeit. Vielleicht für immer. Wieso hat er den Kontakt zu Felix nicht abgebrochen, so wie er es ihm versprochen hat? Wieso ist Simon bei ihm aufgetaucht? Er sollte doch heute arbeiten. Jetzt reißt Simon sich von seiner Hand los und rennt zum Wagen. „Ein Rubicon! Der Hammer!“, ruft er hingerissen und umrundet das Fahrzeug, um es sich von allen Seiten anzusehen. „So einen will ich auch mal haben.“ Seine Augen sind weit aufgerissen und Alex kann seine Aufregung regelrecht spüren. Alex‘ Mund ist trocken vom vielen Schlucken. Die Tränen hören einfach nicht auf zu fließen und wieder muss er sie wegwischen, um etwas sehen zu können. Mit einem Piepen öffnet er die Zentralverriegelung seines Wagens und sofort rüttelt Simon an einer der hinteren Türen. Als er es endlich geschafft hat, sie zu öffnen, klettert er auf den Rücksitz und zieht ungeduldig den Gurt aus der Fahrzeugwand. In Alex‘ Kopf herrscht nach wie vor heilloses Durcheinander. Was ist mit Simon passiert? Wieso verhält er sich so komisch? Hat das etwas damit zu tun, wovor er ihn gewarnt hatte? Aber er hat sein Trauma doch gar nicht angesprochen. Alex wirft die Wagentür zu und setzt sich zitternd vors Lenkrad. „Kannst du Musik anmachen?“, kommt es fröhlich von hinten und er schaltet das Radio ein. „Unstoppable“ von Sia schallt aus den Boxen und Alex registriert traurig die Erkenntnis, dass er diesen Song nie mehr lieben wird, weil er ihn ab jetzt immer an diese fürchterliche Situation erinnern wird. Er lenkt den Wagen von seinem Stellplatz. „Ist das geil!“, hört er Simon aufgekratzt vom Rücksitz rufen, der es nach anfänglichen Schwierigkeiten geschafft hat, sich anzuschnallen. Die ganze Fahrt über hängt Simon kribbelig am Fenster und beobachtet aufmerksam die Umgebung, nickt mit dem Kopf zum Rhythmus der Musik. Alex wagt es nicht, ihn anzusprechen. Er ist verwirrt, weiß ganz und gar nicht mit der Situation umzugehen. Grübelt darüber nach, was genau mit Simon geschehen sein könnte, das ihn in einen solchen Zustand versetzt hat. Als er in die untere Ebene des Olympiadorfes einfährt, in der sich die Straßen befinden, scheint Simon seine Heimat wiederzuerkennen und fängt wieder an zu schwärmen. „Das ist so irre hier, da sind die Straßen im Keller!“ Alex findet einen Parkplatz ziemlich genau unter Simons Haus und stellt den Wagen ab. Noch bevor der Motor aus ist, drückt Simon die hintere Tür auf und läuft zur Treppe. Die Autotür lässt er offenstehen. „Warte!“ Doch Simon steigt schon die Stufen zur Oberfläche hinauf. Alex schließt die Türen und dann rennt er seinem Freund hinterher. „Kannst du aufmachen?“, fragt Simon ungeduldig, als sie vor seinem Haus stehen, doch Alex weiß für einen Moment nicht weiter. Dann fällt ihm ein, Simon trägt seine Schlüssel immer in seiner Hosentasche mit sich herum, genau wie er. „Kannst du mal in deiner Hose nachsehen? Wahrscheinlich sind die Schlüssel da drin.“ Simon fischt mit zwei Fingern in seiner Schoßtasche und fördert einen kleinen Schlüsselbund zutage. Er zieht überrascht die Brauen hoch und gibt ihn wortlos an Alex, wie ein artiges Kind. „Kannst du jetzt aufschließen?“ Alex sieht sich die Schlüssel an. Er kann nur raten, welcher die Haustüre öffnet und entscheidet sich für einen von den beiden eckigen. Scheinbar hat die richtige Wahl getroffen. Nachdem die Türe offen ist, drängt Simon sich an ihm vorbei in den Hausflur und läuft direkt zum Fahrstuhl. Er drückt den Knopf, um ihn zu holen und Alex stellt sich neben ihn. „Komm!“, fordert Simon ihn auf, als sich die Türen öffnen. „Ich zeig dir meine Autos!“ Simon drückt den Knopf mit der eins. „Hast du auch Matchbox-Autos?“ Alex deutet ein Kopfschütteln an. Ihm ist schrecklich unbehaglich zumute. Er hat das Gefühl, in eine Welt vorzudringen, in der er nicht sein sollte. Als der Lift den ersten Stock erreicht hat, stürmt Simon hinaus und rennt direkt zu einer Tür schräg gegenüber. „Kannst du aufschließen?“, bittet er ihn erneut und wie ferngesteuert steckt Alex denselben Schlüssel ins Schloss. Simon stürmt ungestüm in die Wohnung. Alex folgt ihm zögerlich. Ihm ist klar, er darf seinen Freund in diesem Zustand nicht alleine lassen, hat aber nicht die leiseste Ahnung, was er mit ihm anstellen soll. Wenn er sich nicht wieder fängt, muss er etwas unternehmen. Simon ist am Ende des kurzen Flurs verschwunden und Alex geht ihm langsam nach. Er legt den Schlüssel auf das Sideboard neben ihm und entdeckt den kleinen Tischbackofen, den Simon ihm mit ins Hotel gebracht hat. Sein Herz schmerzt fürchterlich und für einen Moment presst er seine Augen ganz fest zusammen, bei der Erinnerung daran. Alex‘ Blick verschwimmt wieder und er bleibt in der Türe zum Wohnzimmer stehen. „Guck mal!“, plärrt Simon und kippt im selben Moment einen riesigen Karton mit klirrenden Legosteinen auf den Teppichboden. „Das sind meine!“ Stolz lässt er sich auf den Boden plumpsen. „Magst du mitspielen?“ Alex‘ Herz blutet. Er geht ein Stück ins Wohnzimmer hinein und setzt sich Simon gegenüber auf den Boden. Zwischen ihnen liegen Unmengen bunter Legosteine und einige Spielzeugautos. „Wieso weinst du denn dauernd?“, fragt ihn Simon nun mit der brutalen Ehrlichkeit eines Kindes und Alex kann nur den Kopf schütteln. „Ist was Schlimmes passiert?“ Simon sieht ihn mitleidvoll an. Alex kann kaum fassen, wie verändert er ist. „Was ist denn passiert?“, lässt Simon nicht locker und durchbohrt ihn mit seinen strahlend hellblauen Augen. Alex verspürt schreckliche Sehnsucht nach Simon, obwohl sich dieser direkt vor ihm befindet. Zitternd saugt die Luft ein. „Ich hab meinen Freund verloren“, piepst er und Simon sieht ihn erschrocken an. „Ehrlich? Wo ist er denn? Ist er tot?“ Alex‘ Magen dreht sich um. „Ich hoffe nicht“, schluchzt er und wischt sich wieder über die Augen. Dann nimmt er sich ein Herz und fragt flüsternd: “Er heißt Simon. Kennst du ihn?“ „Simon, ja klar, den kenn ich.“ Er fischt einen kleinen roten Wagen aus dem Haufen und hält ihn Alex hin. „Hier den schenk ich dir, weil du so traurig bist.“ Alex nickt und nimmt mit zitternder Hand das Miniaturauto entgegen. „Ist n Maserati, mein bestes Auto, aber du brauchst ihn mehr als ich!“ Er zuckt die Schultern. „Ich hab noch viele, den kannst du haben.“ Alex ist schrecklich gerührt und unendlich verwirrt zur gleichen Zeit. Simon ist zwar total verändert, seine Großzügigkeit hat er jedoch scheinbar nicht verloren. Fieberhaft versucht er zu begreifen, was hier passiert. All das fühlt sich an, als sei er in einem schrecklichen Albtraum gefangen. Er wünscht sich aufzuwachen, jetzt sofort. Er legt das kleine Auto vor sich auf den Boden. „Schau ich bau ne Garage“, sagt Simon und hält einige Legosteine in die Höhe. „Kannst du mir mal den langen da drüben geben?“ Alex greift geistesabwesend nach dem grünen Legostein, auf den Simon gezeigt hat und reicht ihn ihm. Konzentriert die Lippen auf seine Zunge gepresst, steckt er unbeholfen mehrere Steine übereinander. „Magst du nicht mitspielen?“ Doch Alex denkt nach. Kurz darauf nimmt er all seinen Mut zusammen und stellt Simon eine weitere Frage. „Wie heißt du denn?“ Simon ist ganz in seine Legokonstruktion versunken und nennt seinen Namen beiläufig, während er die erste Garagenwand auf eine große Legoplatte steckt. „Peter.“ Den fremden Namen aus dem Mund seines Freundes zu hören, bringt Alex an den Rand des Erträglichen. Sein Magen schmerzt und sein Kopf fühlt sich an, als würde er jeden Moment zerbersten. Zitternd nimmt er sich einen Legostein aus dem großen Haufen und umschließt ihn fest mit seiner Hand. Vom Schmerz der scharfen Ecken, die in seine Handfläche stechen, wird er wieder klarer. Mit größter Überwindung stellt er eine neue Frage. „Peter?“ „Ja?“ „Kannst du Simon herholen?“ Peter schüttelt heftig den Kopf ohne von seiner Architektur aufzusehen. „Kannst du ihn nicht holen, bitte?“ „Nee geht nicht!“ Er greift nach einem neuen Stein. „Wieso nicht?“ „Der is weg!“, sagt Peter, als wäre das das Natürlichste der Welt. „Was heißt das, er ist weg?“ Nun sieht Peter von seiner Arbeit auf. „Weg eben. Jetzt bin ich hier.“ Er zuckt die Achseln. Bevor Alex ihn weiter aushorchen kann, erscheint eine dickliche Frau in der Wohnzimmertür und er erschrickt. „Was ist denn hier los?“, fragt sie barsch. „Die Wohnungstür steht sperrangeloffen …“ Dann bricht sie jedoch mitten im Satz ab, denn sie scheint die Lage zu begreifen. Ein Blick in Alex‘ aufgelöstes Gesicht und Simon am Boden inmitten von Lego sitzen zu sehen, genügt offenbar, um ihr klar zu machen, was hier eben geschieht. Beherzt schreitet sie auf Alex zu und packt ihn am Ärmel seines T-Shirts. „So, und Sie gehen jetzt besser!“ Ihr scharfer Tonfall, duldet keinen Widerspruch. Perplex sieht Alex sie an und steht umständlich auf. Bevor er etwas sagen kann, schiebt ihn die resolute Frau unsanft über den kleinen Flur bis zur Wohnungstüre. „Halt, ich will nicht gehen! Was ist denn mit ihm los?“ „Sie müssen jetzt gehen!“ Bevor er reagieren kann, schlägt sie ihm die Tür direkt vor seiner Nase zu. „Lassen Sie mich rein, bitte!“ Doch die Türe bleibt verschlossen. Er unternimmt noch weitere Versuche, die Dame dazu zu überreden, ihn wieder hineinzulassen, doch vergeblich. Resigniert sinkt er schließlich in sich zusammen. Er hockt auf dem filzigen Teppichboden und lehnt seinen Kopf gegen die Tür. Von drinnen ist kaum ein Geräusch zu hören. Nun kann er wieder seine Angst spüren. Die Angst Simon zerstört und ihn für immer verloren zu haben. Und es ist alles seine Schuld. Die Wohnungstür in seinem Rücken gibt plötzlich nach und erschrocken rutscht er zur Seite. Die Frau, die ihn aus der Wohnung geworfen hat, erscheint mit einem Telefon in der Hand und hält es kurz vom Ohr weg. „Gehen Sie jetzt bitte, sonst rufe ich die Polizei!“ Alarmiert richtet Alex sich auf. „Bitte lassen sie mich doch zu ihm. Er ist mein Freund!“ Mit einer Hand bedeckt sie das Handy und wartet, bis er geht. „Was ist denn mit ihm los?“ „Wenn Sie das nicht wissen, sind Sie wohl nicht allzu gut mit ihm befreundet.“ Dieser Magenhieb lässt Alex zurücktaumeln. „Jetzt verschwinden Sie!“, zischt die Frau ihm zu und spricht dann leise ins Telefon. Beide Arme um seinen Bauch geschlungen, schlurft Alex langsam zum Fahrstuhl. Als er den Knopf drückt, gehen die Türen sofort auf. Im Erdgeschoss schleicht er langsam aus dem Haus und lässt sich draußen auf einer kleinen Mauer nieder. Sein Blick geht ins Leere, gefangen in den Bildern, die sich in seinem Kopf manifestieren. Immer wieder taucht Simons Gestalt vor seinen Augen auf. Wie er im Fahrstuhl seines Hauses stand, vor gerade einmal einer Stunde. Sein Gesicht war voller Begeisterung und im nächsten Moment war es versteinert, wie eine leblose Maske. Alex konnte buchstäblich etwas in ihm zerbrechen sehen.

Prolog und erstes Kapitel „Dieser Simon, der ist mir wirklich nicht geheuer.“ Laura und Maik befinden sich in der muffigen Umkleide ihrer Station. Laura blickt sich nach allen Seiten um, als befürchte sie, belauscht zu werden. Ihr blondes, locker zusammengebundenes, Haar wischt dabei über ihren Rücken. „Seine Augen sind irgendwie komisch, findest du nicht? So … naja ich weiß nicht, so kalt irgendwie.“ Ihre rechte Hand streift unbewusst über ihren linken Oberarm, als wolle sie sich mit dieser Geste selbst beruhigen. „Man weiß nie, wen man vor sich hat. Wirklich creepy. Der wechselt seine Persönlichkeiten dreimal, bevor ich Guten Morgen sagen kann. Damit komm ich echt nicht klar! Der Typ ist mir krass unheimlich.“ Mit großen Augen starrt sie Maik direkt an. „Ja, hast schon recht. Einen Multiplen hatte ich auch noch nie auf der Station. Das ist schon echt abgefahren.“ Maik beißt in sein belegtes Brötchen, nickt mit dem Kopf und kaut laut schmatzend, was Lauras Augenbrauen sich zusammenziehen lässt. „Ich weiß nie, wie ich ihn anreden soll“, spricht sie weiter, das schlechte Benehmen ihres Kollegen ignorierend. „Es ist so merkwürdig, wenn er sich wie ne‘ Frau verhält. Mit seinem Strickzeug durch die Gegend rennt und einem Rezeptvorschläge gibt. Das ist echt weird irgendwie.“ Maik hat seinen Bissen hinuntergeschluckt. „Sei froh, dass du das Glück hast, nicht so ein Leben führen zu müssen“, sagt er, bevor sich seine Zähne erneut ins Brötchen graben. Laura kneift die Augen zusammen und schüttelt den Kopf. „Ja, aber echt! Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie das sein muss. Meinst du er kann sich an alles erinnern, oder denkst du der kriegt das gar nicht mit?“ Sie setzt sich neben ihren dreißig Jahre älteren Kollegen auf die schmale Bank und zieht ihren Rucksack heran. Dann kramt sie darin nach ihrem Mittagessen. „Ich hab gehört, dass die sich wohl nicht erinnern können, was sie gemacht haben, wenn sie eine andere Person sind“, sagt Maik dumpf mit vollem Mund. Seine Schultern zucken. „Keine Ahnung.“ Laura sieht, angesichts des brisanten Themas, auch diesmal über seine schlechten Manieren hinweg und antwortet ihm prompt: „Das ist ja schrecklich! Das bedeutet ja, seine Lebenszeit ist viel kürzer, als die von gesunden Menschen!“ Maik nickt. Er unterbricht seinen Essvorgang und nimmt das Brötchen in beide Hände, die Ellenbogen auf seine Knie gestützt. „Ja, sieht wohl so aus. Er tut mir wirklich leid. Vor allem, wenn man weiß, wo solche Störungen herkommen.“ Maiks Kopf dreht sich von einer Seite zur anderen. „Möchte nicht wissen, was der hinter sich hat.“ Laura hat ihre Brotzeitbox gefunden und hält sie geschlossen in ihrer Hand. Der Patient mit den vielen Persönlichkeiten hat es ihr wahrlich angetan. „Besonders gruselig finde ich das kleine Mädchen.“ Wieder drückt sie ihre Lider zusammen. „Da kriege ich echt Angst. Das erinnert mich alles irgendwie an Horrorfilme. Nur, dass das hier echt ist.“ Noch immer pausiert Maik seine Mahlzeit. Seine fleischigen Daumen reiben über den Rest seiner Semmel und sein Blick verliert sich im Nirgendwo. „Ja, das ist schon krass. Im Grunde weiß man gar nicht, welche seiner vielen Persönlichkeiten eigentlich die richtige…“ Bevor er weitersprechen kann, unterbricht ihn Laura aufgeregt. „Einmal wollte er meine Haare flechten. Alter! Da hab ich nen Abflug gemacht.“ Sie schüttelt heftig ihren Kopf. „Ich hab so einen extremen Schiss vor dem Typen.“ Sie springt auf und schaut Maik wieder direkt an. „Hast du denn keine Angst vor den Patienten hier?“ Doch seine Antwort wartet sie nicht ab. Sie will ihre Angst kommunizieren und sie am liebsten hinausschreien. „Also ich bin mir wirklich nicht sicher, ob ich in der Psychiatrie arbeiten kann, wenn ich ausgelernt hab. Ich weiß nicht, wie du sowas wegsteckst.“ Nun beißt Maik wieder in sein Brötchen. „Da gewöhnst du dich dran.“ Kapitel 1 Alicia August Durch die noch geschlossenen Lider kann Alicia erkennen: Es ist bereits taghell im Zimmer. Blinzelnd öffnet sie die Augen. Die Sonne strahlt ihr direkt ins Gesicht, trotzdem fröstelt sie ein wenig. Sie braucht einen Moment, um sich zu orientieren, und dann fällt ihr Alex ein, der im Wohnzimmer auf der Couch schläft. Im Appartement ist es totenstill, nichts regt sich und Alicias Herz zieht sich unwillkürlich angstvoll zusammen. Sie rollt sich aus dem Bett und eilt ins Wohnzimmer. Auf dem Sofa liegen Decke und Kissen durcheinander, doch Alex ist nicht darunter. Das Blut gefriert in ihren Adern, als sie begreift, ihr Bruder ist nicht hier. „Wo bist du?“, flüstert sie in den leeren Raum und versucht, den Gedanken zu verdrängen, ihr kleiner Bruder könnte das Appartement verlassen haben. Hektisch rennt sie zurück ins Schlafzimmer und sucht ihn. „Alex?“ In der Hoffnung, ihn im Schlaf nicht an sich vorbeigehen gehört zu haben, schaut im Badezimmer nach ihm. Doch auch da ist Alex nicht. Ihr Frösteln wird stärker und eine Gänsehaut überzieht ihren gesamten Körper, bis hin zu ihren nackten Füßen. Eine Möglichkeit gibt es noch, wo er sich aufhalten könnte, und sie muss kurz lächeln. Wieso hat sie nicht gleich daran gedacht? Sicher sitzt er auf der Terrasse, das hat er früher immer getan, als sie noch Kinder waren. Alicia läuft wieder ins Wohnzimmer, doch die Terrassentüre ist fest verschlossen. Sie kneift die Augen zusammen, um ihre Enttäuschung und ihr Schuldgefühl zurückzudrängen. Als sie die Augen wieder öffnet, fällt ihr Blick auf Alex‘ Handy. Es liegt auf dem Couchtisch, wie gestern schon. Jetzt schnürt Angst ihre Kehle zu. Alicia hat das Gefühl keine Luft zu bekommen. Alex würde nie ohne sein Telefon aus dem Haus gehen. Das ist kein gutes Zeichen. Halbnackt steht sie erstarrt in Alex‘ Wohnzimmer und ihre Sicht verschwimmt mehr und mehr. Dann fallen ihr Alex‘ Wohnungsschlüssel ein, die sie am Vortag in ihre Tasche gesteckt hat. Hat er sie gefunden? Sie hätte die Tasche mit ins Schlafzimmer nehmen, auf ihr schlafen sollen. „Ach komm schon Alex, tu mir das bitte nicht an!“ Sie sendet ein Gebet in den Himmel, Alex möge in seinem Zustand nicht das Auto genommen haben. Für einen kurzen Augenblick hat sie vergessen, wo sie ihre Handtasche hingelegt hat, und sie läuft kopflos durchs Appartement. Dann fällt ihr wieder ein, dass sie sie gestern Abend mit zur Couch genommen hat, und sie kramt sie unter der zerknüllten Decke hervor. Sie sucht nach Alex‘ Schlüsseln und gleich darauf hat sie sie in ihrer Hand. Er hat sein Appartement verlassen, ohne seine Wohnungsschlüssel mitzunehmen. Alicia schluckt ihre Bestürzung hinunter. Ihre langen Finger fest um den Schlüsselbund gepresst, macht sie sich auf die Suche nach seinem Wagenschlüssel. Wieso hat sie nicht daran gedacht, ihn ebenfalls zu verstecken? Schniefend sucht sie alles ab. Der Autoschlüssel ist nicht da, in der ganzen Wohnung nicht. Alicia sieht sogar im Bad nach, doch sie kann ihn nirgends finden. Panisch reißt sie die Wohnungstür auf und läuft barfuß in den Flur. Nur mit ihrem Slip und einem T-Shirt bekleidet, nimmt sie den Fahrstuhl zur Tiefgarage. Der steinerne Boden des Hausflurs ist eiskalt, doch Alicia spürt es nicht. Sie klammert sich an die Hoffnung, Alex‘ Jeep in der Garage zu finden. An die Hoffnung, Alex mache nur einen Morgenspaziergang. Aber wieso hat er sein Handy nicht mitgenommen und ist ohne seine Schlüssel gegangen? Die Angst hat Alicia fest im Griff und ihr ganzer Körper zittert. Als sie die kleine Garage betritt, kann sie kein einziges Auto darin stehen sehen. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Alex hat den Jeep genommen. Nachdem sie diese Erkenntnis verarbeitet hat, rennt sie zurück zum Aufzug und fährt wieder nach oben. In Alex‘ Wohnzimmer lässt sie sich resigniert aufs Sofa sinken und vergräbt ihr Gesicht in beiden Händen. Mit lautem Schluchzen weint sie ihre Angst und Schuld heraus und versucht verzweifelt zu ergründen, wo Alex hingefahren sein könnte. Wieso hat sie die Wohnungstüre nicht abgeschlossen? Wieso hat sie nicht auf ihren kleinen Bruder aufgepasst? Sie hat sich einfach ins Bett gelegt, ohne einen Gedanken daran zu verwenden, Alex könnte aufwachen und die Wohnung verlassen. „Wo bist du?“, flüstert sie in ihre klammen Finger. Wieso hat er ihr keine Nachricht hinterlassen? Wieso hat er sein Telefon nicht mitgenommen? Ihre Gedanken drehen sich im Kreis. Alicia versucht, sich zusammenzureißen, aber das schreckliche Gefühl der Angst, will nicht verschwinden. Im Gegenteil, es wird immer schlimmer. Vielleicht ist er zu Felix gefahren. Alicia nimmt Alex‘ Telefon vom Couchtisch und versucht, mehrere Male, es zu entsperren. Sie versucht es mit seinem Geburtsdatum, mit ihrem, sogar mit denen ihrer Eltern. Simons Geburtstag kennt sie nicht. Entmutigt gibt sie auf. Ihr Blick wandert durch den Raum. Er wirkt kalt auf sie, trotz der gelben Wände. Keine Bilder, keine Deko. Alles ist ordentlich und sauber. Es sieht nicht so aus, als ob hier jemand wohnt. Die Lichterketten, die Alex bei seiner Einweihungsparty über die Türen gehängt hat, liegen in einem wirren Knäuel in der Ecke neben der Couch. Er hat sie noch immer nicht angebracht. Die pechschwarze Küchenzeile strahlt plötzlich etwas Bedrohliches aus. Sie wirkt wie ein Monster auf Alicia, das sie jeden Moment anfällt. Groß und schwarz spiegelt sie ihre Stimmung wider. Sie muss hier raus. Sie muss nach Hause, wo sie sich in die starken Arme ihres Mannes sinken lassen kann, der immer für sie da ist. Frierend steht sie auf und geht ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Als sie auf dem Bett sitzt und die Schnürsenkel ihrer Turnschuhe zubindet, fällt ihr Simons Psychiaterin ein. Vielleicht ist Alex noch einmal zu ihr gefahren. Das würde Sinn ergeben. Der einzige Grund warum er in seinem Zustand aus dem Haus gegangen ist, kann sicherlich nur sein, Simon zu finden. Und wenn das nicht der Grund ist? Wenn er weggelaufen ist? Was wenn er ihre Absicht, ihn in die Klinik bringen zu wollen, gespürt hat? Alicia reibt mit beiden Händen über ihr Gesicht. Dann verdrängt sie diesen Gedanken wieder und klammert sich an die Hoffnung, dass Alex zu Simons Ärztin gefahren ist. Sie geht zurück ins Wohnzimmer und setzt sich wieder auf die Couch. Wie war nochmal ihr Name? Ines? Oder Iris? Alicia weint bittere Tränen. „Komm endlich heim!“, ruft sie in den leeren Raum und steckt Alex‘ Handy in ihre Handtasche. Dann öffnet sie ihr eigenes Handy und googelt nach der Psychiaterin. Was weiß sie? Sie weiß den Vornamen, oder zumindest fast und Alex hat erwähnt, sie wohnt in Regensburg. Sie gibt Dr. med. Ines und Regensburg in Google ein. Nichts. Dann versucht sie es mit Iris. Bingo. Dr. med. Iris Hofmann. Sie atmet erleichtert auf. Unzählige Einträge stehen aufgereiht untereinander und Alicia öffnet einen nach dem anderen, auf der Suche nach ihrer Nummer oder ihrer Adresse. Doch das ist aussichtslos. Nicht einmal eine E-Mail-Adresse wird irgendwo angegeben. Nach dem fünfzehnten Beitrag lehnt sie sich zurück. „Ist ja auch klar! Welcher Psychiater würde schon seine Adresse im Internet angeben? Das hätte ich mir vorher denken können.“ Erschrocken vor ihrer eigenen Stimme, beendet sie ihre Suche und beschließt, endlich nach Hause zu fahren. Wenn sie schon anfängt, Selbstgespräche zu führen, sollte sie jetzt irgendetwas Konkretes unternehmen und nicht nutzlos hier herumsitzen. Sie wählt den Kontakt ihres Mannes an und der geht beim Zweiten Leuten ran. „Ist was passiert?“ Ralf kennt Alex‘ Vorgeschichte und weiß, man muss bei ihm mit allem rechnen. „Schatz ich komme jetzt heim, Alex ist weg. Er hat das Auto genommen und ich glaube er ist zu dieser Psychiaterin von Simon gefahren.“ Alicia sieht auf ihre Hände. Sie zittern unkontrolliert. „Er hat aber sein Handy nicht mitgenommen und das macht mir echt Angst.“ Wieder laufen die Tränen und das ohnmächtige Gefühl der Angst lähmt ihren Körper. „Nimm dir ein Taxi!“ Alicia kann Besorgnis in Ralfs Stimme hören. „Du solltest jetzt lieber nicht Auto fahren.“ „Hast du noch diesen Freund bei der Bundespolizei?“ „Ja?“, fragt Ralf zögerlich zurück. „Aly, ist es so schlimm?“ „Ich muss rausfinden wo er ist. Ich mach mir solche Sorgen. Er war so depressiv gestern. Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn ihm was zustößt. Ich hätte ihn gleich in die Klinik bringen sollen!“ Sie schluchzt in ihr Telefon. „Ich komme jetzt nach Hause, kannst du deinen Freund inzwischen mal anrufen und ihn fragen, ob er eine Nummer für mich rausfinden kann? Die Frau heißt Iris Hofmann, sie wohnt in Regensburg, oder irgendwo in der Ecke. Sie hat einen Doktortitel.“ Ralf verspricht anzurufen und die beiden legen auf. Aufgelöst macht sie sich auf die Suche nach Stift und Zettel, um Alex eine Nachricht zu hinterlassen. In den fast leeren Schubladen und Fächern des Sideboards wird sie nicht fündig. Also sucht sie im Schlafzimmer weiter. Sie kramt in den Kartons zwischen Alex‘ Kleidern und mit einem Mal hat sie sein Songbook in der Hand. „Besser als nichts!“, sagt sie wieder laut zu sich selbst und blättert die Seiten um, bis sie eine noch unbeschriebene Seite findet. Ihr Blick bleibt dabei an Alex‘ letzten Notizen hängen. I’m nothing without you steht da und drunter I’m dead, when you leave. Alicias Herz fängt an, wild zu schlagen. Ist das eine Suizidansage? Sie reißt das leere Blatt daneben heraus und nimmt Songbook und Papier mit ins Wohnzimmer. In ihrer Tasche findet sie einen Kugelschreiber und kritzelt fahrig eine Nachricht für Alex auf den Bogen. Den legt sie demonstrativ auf den Couchtisch. Dann steckt sie Alex‘ Telefon und sein Songbook in ihre Handtasche und verlässt die Wohnung. Als der Aufzug kommt, kehrt sie noch einmal um, holt ihren Zettel aus dem Appartement und legt ihn auf den Fußabtreter vor Alex‘ Wohnungstüre. „Hast du ihn erreicht?“, ruft sie ohne Umschweife vom Flur aus in ihre Wohnung, als sie zwanzig Minuten später zuhause ankommt. Augenblicklich hängen zwei Paare Arme an ihren Beinen und hindern sie daran, ins Wohnzimmer zu gelangen. „Mami!“ Ihre kleine Tochter Mia begrüßt sie so überschwänglich, als hätte sie ihre Mutter seit Wochen nicht gesehen. Der zweijährige Leo ahmt seine größere Schwester nach und hält Alicias Unterschenkel mit beiden Ärmchen umklammert. Fest drückt er sein kleines Köpfchen an sie. Alicia kann sich ein Lächeln nicht verkneifen und geht in die Knie, um ihre Kinder gebührend zu begrüßen. Ralf erscheint im Flur und schüttelt den Kopf. „Noch nicht. Er arbeitet wahrscheinlich. Aber ich hab deine Mutter angerufen.“ „Was?“, ruft Alicia viel zu laut und spürt augenblicklich starke Ablehnung in ihrem Inneren aufsteigen. „Wieso das denn?“ „Naja ich dachte, wir sollten alle Optionen abchecken, oder? Ich dachte vielleicht ist Alex ja zu ihr gefahren. Aber da ist er nicht.“ Alicia nickt. „Natürlich nicht. Und hat sie was gesagt?“ „Naja, sie bat darum ihr Bescheid zu geben, wenn er wieder auftaucht.“ „Hat sie doch ein Herz?“ Alicia murmelt leise vor sich hin. „Deinen Vater hab ich übrigens nicht angerufen. Ich denke nicht, dass Alex zu ihm gefahren ist, oder was meinst du?“ „Nein, das glaube ich auch nicht. Soweit ich das beurteilen kann, schien es Alex‘ oberste Priorität zu sein, Simon zu finden. Bei unserem Vater wird er ihn ganz sicher nicht vermuten.“ Nachdem die beiden Kinder ihre ausschweifende Begrüßung beendet haben, laufen sie gemeinsam lachend ins Wohnzimmer. Alicia sieht ihnen lächelnd nach. Wie unbekümmert sie sind. „Hast du ein Taxi genommen?“ Alicia schüttelt den Kopf. „Nein, das hab ich ehrlich gesagt ganz vergessen. Aber es ist besser so, denn so hab ich den Wagen hier, falls ich ihn brauche.“ Ralf sieht sie besorgt an, nickt und geht zurück ins Wohnzimmer. Alicia läuft ihm nach. „Meinst du dein Freund kann auch Alex‘ Telefon entsperren?“ „Jetzt mach aber mal halblang! Das geht entschieden zu weit. Er ist erst grade weg und du machst dich schon total verrückt.“ „Ralf ich spüre, da ist was. Ich hab ein ganz schlechtes Gefühl, ehrlich.“ Alicia holt Alex‘ Songbook aus ihrer Tasche und schlägt es auf. Sie sucht nach der Seite, auf der sie Alex‘ letzten Eintrag gesehen hat. „Schau, hier!“ Sie reicht Ralf das Buch und zeigt ihm die Stelle. „Er schreibt von Tod und dass er ohne ihn stirbt“, piepst sie und ihre Augen werden erneut von Tränen geflutet. Ralf liest die Zeilen und sieht seine Frau mit schief gelegtem Kopf an. „Das ist ein Liebessong, Aly. Da müssen solche Sachen drinstehen. Das hat nichts zu bedeuten. Bitte beruhige dich. Ich versuche noch einmal Björn zu erreichen.“ Alicia kann die Sorge im Gesicht ihres Mannes erkennen. Macht er sich Sorgen um sie, oder macht er sich ebenfalls Sorgen, Alex könnte etwas Dummes getan haben? Sie nimmt zitternd einen tiefen Atemzug, um sich zu beruhigen. Ralf schnappt sich sein Telefon und geht in den Flur. Leise kann sie ihn reden hören und hofft, er hat seinen Freund nun erreicht. Als er zurückkommt, hat er ein Lächeln im Gesicht. „Und? Macht er’s?“ Doch Ralf schüttelt den Kopf. „Nein, ihre Nummer kann er uns nicht geben, aber er wird sie anrufen und sie fragen, ob Alex bei ihr ist. Ist das okay für dich?“ Alicia fällt ihrem Mann um den Hals und bedeckt sein Gesicht mit Küssen. „Danke du bist der beste Mann der ganzen Welt!“ Während sie auf Björns Rückruf warten, packt Alicia Alex‘ Telefon aus der Tasche und in diesem Moment ploppt eine Pop-up-Nachricht auf dem Display auf. Alicia beeilt sich sie zu lesen, bevor sie wieder verschwindet. Hallo, geht’s dir gut? Meld dich mal steht da. Geschrieben wurde die Nachricht von einem X. Sie tippt schnell auf das kleine Kästchen in der Hoffnung so ins Innere von Alex‘ Handy zu gelangen, doch das funktioniert selbstverständlich nicht. Enttäuscht legt sie das Telefon auf den Tisch und stellt ihre Tasche weg. „Ich springe mal schnell unter die Dusche. Bitte sag mir sofort Bescheid, wenn Björn was hören lässt.“ Sobald sie die Badtür geschlossen hat, spürt sie eine innere Erschöpfung. Müde klaubt sie ein paar Wäschestücke vom Fliesenboden auf und wirft sie in den Wäschekorb. Was, wenn Alex nicht bei Dr. Hofmann ist? Sie stützt sich mit den Händen aufs Waschbecken und sieht in den Spiegel. Du hast nicht aufgepasst denkt sie und sieht sich dabei tief in die Augen. Wenn ihm was passiert, ist das deine Schuld! Resigniert wendet sie sich von ihrem Spiegelbild ab und zieht sich aus. Sie steigt in die Dusche und lässt das Wasser laufen. Eine Viertelstunde später sitzt sie angespannt in der Küche und hält mit beiden Händen ihren Kaffeebecher umklammert. Das Warten reibt ihr Nervenkostüm komplett auf. Was dauert da so lange? „Hast du schon was gefrühstückt?“ Alicia schüttelt den Kopf. „Ich hab keinen Hunger.“ „Du solltest trotzdem was essen, Aly“, insistiert er, doch damit stößt er bei ihr auf Granit. In diesem Punkt sind sie und Alex sich gleich. Wenn sie nervös oder traurig sind, bringen sie keinen Bissen herunter. Endlich läutet Ralfs Telefon und Alicia ist sofort neben ihm. „Aha, mhm, aha, okay“, murmelt er und sie wird immer ungeduldiger. Was der andere Gesprächsteilnehmer sagt, kann sie nicht verstehen. Als Ralf auflegt, schaut sie ihren Mann erwartungsvoll an. „Also du kannst dich beruhigen. Alex war tatsächlich bei Dr. Hofmann, ist aber schon wieder auf dem Weg nach München.“ Alicia atmet tief durch. „Er sollte so in einer halben Stunde hier sein.“ Sie spürt, wie die Anspannung prickelnd etwas nachlässt. „Hat sie sonst noch was gesagt?“ Obwohl sie nun weiß, wo ihr kleiner Bruder ist, will das ungute Gefühl in ihr sich nicht gänzlich auflösen. „Das weiß ich nicht. Björn hat mir nur das gesagt.“ „Hat er gesagt, ob Alex direkt zu sich nach Hause fahren wollte?“ „Aly, das weiß ich nicht, aber davon gehe ich mal aus, oder?“ „Ich weiß nicht Ralf. Ich hab immer noch dieses doofe Gefühl. Vielleicht ist er abgehauen. Vielleicht hat er gespürt, dass ich ihn in die Klinik bringen wollte.“ „Das glaube ich nicht. Jetzt lass uns doch erst einmal abwarten und du wirst sehen, in spätestens einer Stunde hast du deinen Bruder wieder. Okay?“ Ralf nimmt sie lächelnd in den Arm und drückt sie fest an sich. „Ich bin ganz sicher, es geht ihm gut.“ Alicia lässt sich ganz in die tröstende Umarmung ihres Mannes fallen. Sie sollte sich beruhigen. Sicher hat Ralf recht und sie macht sich völlig umsonst so verrückt. Alex hat nach Simon gesucht, das ist alles. Sie hofft, er hat ihn gefunden. Aus der einen Stunde werden quälende drei. Und als Alicia endlich erfährt, wo sich ihr Bruder befindet, klappt sie einfach zusammen.

BLUE Kapitel 1 Mittwoch Es war ein lauer Abend. Einer von der Sorte, an dem noch in der Dämmerung die Hitze von den Hauswänden abstrahlt und die Stadt weiter aufheizt. Den ganzen Tag hatte die Sonne erbarmungslos vom wolkenlosen Himmel gebrannt und die Steine und Ziegel haben ihre abgegebene Wärme gespeichert. Erst jetzt konnte man sich nach draußen wagen. Erst jetzt gegen Mitternacht war die Temperatur so weit gesunken, dass der Kreislauf nicht verrücktspielte, wenn man sich körperlich betätigte. Ursprünglich wollte David laufen gehen, seine innere Unruhe hinausrennen, die in ihm tobte, doch er entschied sich spontan um, und nun schlich er langsam über einen unbefestigten Weg, der durch hohe Sträucher führte. Spontanität war gar nicht seine Art, normalerweise wägte er seine Taten sorgfältig ab. Überlegte hin und her. Entschloss sich bewusst für etwas oder eben nicht. Dies hier war ein Experiment, denn so konnte es nicht weitergehen. Immer wieder stieß er mit seinen neuen Laufschuhen gegen lose Steine und kickte sie missmutig zur Seite. Er fühlte sich extrem nervös. In dieser Gegend kannte er sich nicht aus. Noch nie zuvor war er hier gewesen. Darüber nachgedacht, hierher zu kommen, hatte er schon oft, aber nie hatte er den Mut gehabt es auch wirklich zu wagen. Doch heute war der Leidensdruck so groß, dass sein Körper quasi von selbst diese Richtung eingeschlagen hatte, und nun fand er sich hier wieder, am See. David bemühte sich, nicht unsicher zu wirken, zwang seine Mundwinkel nach oben, um sich selbst Mut zu machen, obwohl es stockdunkel war und es höchst wahrscheinlich niemand hätte sehen können. Seine Handflächen schwitzten und er rieb sie immer wieder an seiner viel zu knappen Sporthose trocken. Hatte er intuitiv bereits gewusst, was er eigentlich vorhatte? Die extrem kurzen Shorts deshalb gewählt? Sie bedeckten seinen kleinen Hintern gerade mal so. Zuhause hatte er sich noch sexy darin gefühlt, doch nun strich er wieder und wieder über die kurzen Hosenbeine, um sie nach unten zu ziehen. Wie zufällig schlenderte er betont lässig daher. Es war sein erstes Mal überhaupt. Noch nie zuvor war er an einem dieser Orte gewesen. Hatte bloß drüber gelesen. Sein Herz hämmerte plötzlich so heftig in seiner Brust, dass er das Gefühl hatte, das laute Trommeln würde im ganzen Wald zu hören sein. Das innere Kopfschütteln hielt er kaum in Zaum. Was wollte er hier? Ein vages Stechen in seinem Herzen gab ihm die Antwort. Nur noch etwa hundert Meter schätzte er, dann würde es ernst werden. Wollte er das? Wollte er das wirklich tun? Mit einem wildfremden Kerl in die Büsche springen? Das Herz sollte das nicht entscheiden. Was wenn er sich ansteckte? Oder was wäre, wenn er ein Messer in den Bauch bekäme? David sog tief die Luft ein. Er musste seine Ängste überwinden, wenn er Sex haben wollte. Er war schon im Bett gewesen. Fast hatte er schon geschlafen. Doch dann war da dieses Sehnen in seiner Brust, wie so oft. Und sein fiebernder Penis gab keine Ruhe. In seinem Kopf spielten sich die erregendsten Szenen ab. Das Kopfkino war mächtig in Fahrt gekommen. An Schlaf war nicht zu denken. Die Sehnsucht, endlich einen anderen Körper zu spüren war überwältigend. Die Sehnsucht nach Nähe und Berührung so massiv, dass er letztendlich von der Matratze sprang und sich wieder anzog. Eigentlich um Laufen zu gehen, seinen aufgewühlten Körper durch Anstrengung zur Erschöpfung bringen. Doch dann schlug ebendieser Körper, wie von selbst einen anderen Pfad ein. David verließ seine übliche Laufstrecke und rannte in die entgegengesetzte Richtung. Sein sich verzehrender Körper bestimmte die Richtung. Jede Faser seines Leibes sehnte sich nach Berührung. Schließlich gab es einen Ort, an dem er genau das bekommen konnte. Sogar mehrere. Einer davon lag nicht allzu weit entfernt, das wusste er schon, seit er in seine Wohnung gezogen war. Und nun schlich er hier durch den Wald und war sich nicht sicher, ob das eine gute Idee war, hierher zu kommen. Denn hier ging es nicht um Nähe, hier ging es nur um Sex und das war bei weitem nicht alles, wonach sich David sehnte. Ein Rascheln unmittelbar neben ihm ließ sein Herz stolpern. Mit weit aufgerissenen Augen versuchte er etwas in der Dunkelheit zu erkennen, doch es war finster hier. Dichtes Laub ließ kaum das Licht des Mondes hindurchschimmern. Die feinen Härchen auf seinen Armen standen gefühlt kerzengerade nach oben. David fröstelte, obwohl ihm der Schweiß in Bächen am Rücken herunterlief. Für einen Moment wusste er nicht, ob er nicht lieber umkehren sollte. Was brachte ihm das hier? Hier würde sein Sehnen allerhöchstens für zwei, drei Minuten gelindert werden. Aber das war besser als überhaupt nicht, oder? Also nahm er all seinen Mut zusammen und beschleunigte seinen Schritt Richtung See. Er beruhigte sich selbst. Sicher waren die Geräusche im Dickicht nur zwei geile Kerle, die es sich besorgten. Kein Grund auszuflippen. Schließlich war er aus genau diesem Grund hier. Ein paar Meter weiter kam ihm eine schwarze Gestalt entgegen. Unversehens war sie aus dem Dickicht geschlüpft und Davids Herz pochte wieder wild und kräftig. Die Person war einen guten Kopf größer als er, und machte David sofort Angst. Soviel er sehen konnte, war sie, trotz der starken Wärme, in einen dicken schwarzen Kapuzenpulli gehüllt und dieser seltsame Aufzug weckte zudem Davids Misstrauen. Die Kapuze hatte der Mann tief ins Gesicht gezogen, sodass David, selbst als er näherkam, nichts davon erkennen konnte. Kurz blieb er stehen, als er David erreicht hatte und David sprang das Herz fast aus der Brust, dann drückte sich dieser riesige Kerl auf dem schmalen Pfad an ihm vorbei und sein Ellenbogen streifte Davids Arm. Die Stelle, an der er David berührt hatte, brannte lichterloh. So ausgehungert nach Berührung war er, dass dieser flüchtige körperliche Kontakt, trotz Stoff dazwischen, seine Haut in Flammen setzte. David schluckte. Das war erbärmlich. Mit angehaltenem Atem und pochenden Herzen hielt er inne, bis die Person an ihm vorüber war. Oh Mann, das war ganz schön nervenaufreibend hier. Kurz überlegte David, ob es das wert war, sich in vermeintliche Gefahr zu begeben. Sein Nervenkostüm derart zu strapazieren, nur, um sich für einen kurzen Moment nicht allein zu fühlen. Doch das Adrenalin, das durch seine Adern schoss, fühlte sich aufregend an. Der Duft des Mannes, und es war eindeutig der Duft eines Mannes, war intensiv und erregend. Verstohlen blickte er sich um, in die Richtung, in die die Gestalt verschwunden war, doch der Weg war leer. In der anderen Richtung konnte David bereits das Ende des Waldes erkennen. Der Weg führte genau darauf zu. Er schritt schneller aus und zwei Minuten später trat er ans Ufer des kleinen Sees. Hier war es sehr viel heller als im Wald. Der Mond war etwa zu zwei Dritteln voll und tauchte die Landschaft, wie ein schwacher Scheinwerfer, in fahles Licht. Alles hatte einen Grauschleier. Keine Farben, nur durch Helligkeitsunterschiede ließ sich die Umgebung ausmachen. David ließ seine Augen aufmerksam über das Ufer gleiten. Aus dem farblosen Einheitsgrau kristallisierten sich nun mehrere kleine Grüppchen heraus. David entdeckte bestimmt sechs, verteilt am Strand des Sees. Meist waren es nur zwei Personen. Männer. Sie fassten sich ungehemmt an, küssten sich oder fielen übereinander her. Dass sie von jedermann gesehen werden konnten, schien sie nicht zu stören. Das fühlte sich nicht richtig an. In Davids Inneren regte sich Unbehagen. Sicher, er war genau deswegen hergekommen, doch es nun live zu sehen befremdete ihn. Er würde sein erstes Mal viel lieber mit einem vertrauten Menschen erleben. Mit einem Partner. Mit Liebe oder zumindest Zuneigung dabei. Und im Verborgenen! Das hier war nichts für ihn. Sich von irgendeinem x-beliebigen Kerl auf dem Präsentierteller den Schwanz lutschen zu lassen und wieder zu gehen. Selbst, wenn es in den Büschen geschah, versteckt vor den Augen anderer, fühlte es sich falsch an. Auch wenn sein Unterleib ihm etwas anderes sagte. Doch was Davids Herz in Wahrheit wollte, war Liebe, keinen schnellen Sex. Für einige Sekunden überlegte er und stand stocksteif am Ende des Waldweges. Er brauchte sich nur umdrehen und zurückgehen. Und dann? Wieder im Bett liegen und davon träumen, statt es zu tun? Schließlich siegte die Sehnsucht. Und vielleicht ließe sich ja hier auch ein Partner finden. Vielleicht waren diese Männer hier auch nur einsam, so wie er, und auf der Suche nach Nähe. Vielleicht könnte er an diesem Ort den Mann finden, mit dem er eine Beziehung aufbauen könnte. Doch tief im Inneren wusste David, er machte sich nur etwas vor. Diese Männer waren nicht hier, um Freunde zu finden. An diesem Ort galten andere Regeln. Anonymität stand ganz oben. Hier lud man sich nicht zum Kaffeekränzchen ein, oder verabredete sich zu einem gemeinsamen Kinobesuch oder einem romantischen Abendessen. Hier ging es nur um das Eine. Schnellen Sex. Ohne Namen, ohne Verpflichtungen. David atmete tief durch und kämpfte gegen die Tränen an. Wenn er jetzt zurück nach Hause ginge, würde er sich ebenso beschissen fühlen, wie vorhin, als er sich hierher aufgemacht hatte. „Nur zu, nicht so schüchtern!“ So überraschend angesprochen zu werden, ließ Davids Brust zusammenzucken. Er fuhr herum und blickte in ein freundliches, aber faltiges Gesicht, das erstaunlich nah war. Ein etwa sechzigjähriger Mann mit kurzgeschorenen grauen Haaren, die im Mondlicht glitzerten, lachte ihn an. Wie hatte er sich, von David unbemerkt, so nah ihn heranschleichen können? „Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“ Der Mann grinste flirtend. „Lust mit mir in die Büsche zu springen?“ David war so perplex, dass er im ersten Moment nicht antworten konnte. Sein Herz schlug wild in seiner Brust und in seinem Kopf wirbelten seine Gedanken in einem heillosen Chaos durcheinander. Der Mann sah nicht schlecht aus, das registrierte David, durch seine Aufregung hindurch. Er trug ein Muskel-Shirt und enge knappe Shorts, wie er. War extrem gut durchtrainiert und wirkte fit und dynamisch. Auch machte er keinen bedrohlichen Eindruck auf ihn. „Ähhm.“ Das war das Einzige, was David hervorbrachte. Er spürte, wie seine Hände zitterten. Er fühlte sich unglaublich verlegen und unsicher. Sollte er mitgehen? Wieder hatte er dieses unbehagliche Gefühl, das ihm sagte, dass er das nicht wirklich wollte. „Nein, ich …“, stotterte er schließlich und der Mann drehte sich von ihm weg. Anscheinend fackelte man hier nicht lange. Wenn einer nicht kooperierte, wand man sich einem anderen zu, und genau das machte der Mann gerade. Er ging zu einem Kerl, der eben aus dem Wasser stieg. „Nass siehst du noch geiler aus!“, hörte er ihn rufen und dann beschloss David endgültig, kein Mitglied dieses Clubs sein zu wollen. Er schluckte seine Enttäuschung hinunter und entschied, sich auf den Heimweg zu machen. Sollten diese Kerle sich doch amüsieren. Doch er wollte keiner von ihnen sein. Mit weher Brust sah er zu, wie der Mann, der ihn eben angesprochen hatte, einen anderen küsste und mit ihm am Ufer entlanglief. David kniff die Augen zusammen. Sein Herz wollte das auch. Er sehnte sich nach Küssen und Zweisamkeit. Wollte endlich wissen, wie sich das anfühlt. Und doch würde er das, was er sich wünschte, hier nicht finden. Er würde weiterwarten müssen. Tief seufzte er in die Dunkelheit und zwang sich, hier das Feld zu räumen. Noch bevor er sich umdrehen konnte, umfassten ihn zwei kräftige Arme von hinten. David blieb die Luft weg. Seine Knie fühlten sich weich an und gleichzeitig fingen sein Herz und sein Unterleib an, heftig zu pochen. Er spürte eine starke Wärme, die sich an der Hinterseite seines Körpers ausbreitete und ihm augenblicklich ein wohliges Gefühl gab. Als hätte ihm jemand eine voll aufgedrehte Heizdecke in den Rücken gelegt. Trotz der Hitze des Tages genoss David diese heiße Umklammerung. Obwohl er keine Ahnung hatte, wer da hinter ihm stand war er versucht sich an ihn zu schmiegen. Sein Verlangen nach Nähe war so massiv, er kam nicht dagegen an. Auch wenn sein Verstand Alarm schrie. Der Umarmer sagte kein Wort, er ließ nur sein Gesicht langsam über Davids Hals streifen und wühlte mit seiner Nase in seinen Haaren herum, während er sich von hinten an ihn drückte. Davids ganzer Körper vibrierte, war von Gänsehaut überzogen. Das Adrenalin spritzte durch seine Adern, wie zischendes, kochendes Öl. Seine Libido stand sofort in Flammen. Sanft rieb der Kerl hinter ihm sein Gesicht an seinem Nacken, wie eine Katze, wippte sachte mit seinem Unterleib gegen Davids Hintern. Es war aufregend. Trieb David einen Schauer nach dem anderen über den Leib. Sein Herz glühte, seine Wangen auch. Die zärtliche Art, wie dieser Kerl sich an ihm rieb, ließ nicht nur Erregung in David aufflammen. Er musste kurz selbst über sich lachen, als er sich dabei ertappte, wie er sofort Gefühle entwickelte. Liebesgefühle. Wie erbärmlich. Wie abgefuckt musste man sein, um bei der Umarmung eines Wildfremden Gefühle im Herzen zu verspüren. Doch sein Herz war nicht das einzige Körperteil, das sich regte. David spürte die beklemmende Enge in seinem Slip. Sein Gesicht brannte wie Feuer. Sicher war es feuerrot angelaufen. Er spürte die Scham in jedem kleinsten Äderchen seiner Wangen. Jetzt bewegte der Kerl hinter ihm keinen Muskel mehr. Er hatte seinen Kopf auf Davids Schulter gelegt und verweilte einfach so, hielt ihn nur fest. David konnte seinen heißen Atem an seinem Hals spüren. Er musste den Drang sich umzudrehen und ihn in den Arm zu nehmen heftig unterdrücken. Die immergleiche Frage wirbelte in seinem Kopf herum. Sollte er sich auf diesen Mann einlassen? Hatte er überhaupt noch eine Wahl? Sein ganzer Körper schrie Jaaaaa! Bevor er sich eine vernünftigere Antwort geben konnte, hob der Mann hinter ihm den Kopf von seiner Schulter und drehte ihn mit starken Händen gleichzeitig um. Davids Herz setzte einen Schlag aus und er fing an, am ganzen Körper zu zittern. Der Kapuzenmann, der ihm vorhin im Wald begegnet war, stand vor ihm, ganz nah. Jetzt konnte er seinen Duft deutlich wiedererkennen. Er streifte David das Haar aus dem Gesicht und strich mit den Fingern sanft über seine Wange. Er tat das so gefühlvoll, dass Davids Herz wieder zu hüpfen begann. Auch jetzt konnte David sein Gesicht nicht sehen. Es lag im Schatten. Als David sich noch fragte, ob das aufregend war, oder eher extrem unheimlich, wanderten die Hände seines Gegenübers unter sein Shirt. David musste nach Luft schnappen. Er konnte spüren wie das Blut gleichzeitig in sein Gesicht und in seinen Schwanz schoss. Frage beantwortet, eindeutig aufregend! Dann ging alles sehr schnell. Der Fremde ohne Gesicht fackelte nicht lange. Er zog David an seinem Hosenbund vom Weg ins Gebüsch und David ließ es geschehen. Er konnte sich ihm nicht widersetzen. Wollte es auch gar nicht. Der Fremde war so fordernd und drängend und David sehnte sich so sehr nach Zuwendung, dass es fast körperlich schmerzte. Er wollte es. Jetzt wollte er es um jeden Preis. Kein Umstand der Welt hätte ihn jetzt noch davon abhalten können sich in die Arme, dieses starken Mannes fallen zu lassen. Was auch immer er mit ihm vorhatte. Er würde es geschehen lassen. Er konnte sich nicht wehren. Wollte es nicht. Er wollte es endlich spüren. Er staunte nicht schlecht, als er die weiche Decke sah, die dieser Schweigende, wohl im Vorfeld, dort platziert hatte. Er war sicher nicht zum ersten Mal hier, dachte David und noch im selben Moment lag er auf der Decke. Er keuchte auf, als sein Rücken den Boden berührte. Der Kerl, der ihn verführte, hatte seine Hände jetzt gefühlt überall, als hätte er tausend Hände. Er strich zärtlich über seinen Bauch, seine Brust, seinen Nacken. Spielte mit seinen Brustwarzen. Davids Nervensystem kam nicht mehr mit. Ein berauschendes Gefühl breitete sich in ihm aus, das in jede seiner Zellen drang. Sein Blut schoss in Eilgeschwindigkeit durch seine Adern und in seinen pochenden Schwanz. Er war in einem Taumel gefangen. Einem Taumel aus den verschiedensten Empfindungen. Erregung. Ja, Erregung stand ganz oben! Sein ganzer Körper zitterte vor wilder Gier. Doch auch andere Empfindungen prasselten auf ihn ein, ohne dass er sich dagegen wehren konnte. Aufregung, Unsicherheit, Angst, Euphorie, Wehmut, Sehnsucht und auch eine tiefe Traurigkeit. Trauer darüber, dass er keinen Partner hatte, der ihm diese Gefühle, die er gerade empfand, wieder und immer wieder geben könnte. Darüber, dass ihn nie jemand gewollt hatte. Zu klein, zu schmächtig, nicht sexy genug. Auch die Merkmale seines Gesichts waren allesamt knapp am gängigen Schönheitsideal vorbeigeschrammt. Die Lippen zu wulstig. Sie sahen aus wie eine beleidigte Schnute. Die Augen ein Ticken zu groß, umsäumt von schwarzen Wimpern und dichten Augenbrauen. Zudem sahen sie immer betrübt aus. Nicht nur ihre natürliche Form, sondern auch ihre Farbe. Grau wie ein regenverhangener Himmel. Als hätte Gott sich mit ihm einen Scherz erlaubt, hat er zudem seine gesamte Haut mit winzigen braunen Sprenkeln übersät, selbst das Gesicht hat er dabei nicht verschont. Passend zu seinen üppigen Sommersprossen wäre rotes Haar gewesen. Das wäre wenigstens ein wenig besonders. Doch das wurde ihm nicht gegönnt. Sein Haar hatte eine mausgraue Farbe. Die langweiligste Haarfarbe der Welt. Auch seine Nase war irgendwie komisch. Statt sie lang und maskulin zu machen, dachte sich sein Erschaffer wohl: lieber mache ich sie klein und niedlich, sodass an dem ganzen Kerl einfach Nullkommanichts männlich ist. Oder bemerkenswert. David stellte sich oft vor, wie Gott bei seiner Erschaffung Tränen gelacht hat. Dabei glaubte er nicht einmal an Gott. Vielleicht war er aber auch nur einer von diesen Menschen, die für andere völlig unsichtbar sind. Durch die sie einfach hindurchsehen. Einer dieser unscheinbaren Menschen, die nichts Besonderes an sich haben, nichts was in Erinnerung bleibt oder jemanden dazu bringen würde mit seinem Blick länger als eine zehntel Sekunde hängenzubleiben. Er hasste es, Liebespaaren zu begegnen. Bei ihrem Anblick zog sich sein Herz zu einem harten, kalten Klumpen aus Eifersucht und Neid zusammen. Er wollte nicht so missgünstig sein, doch er konnte nichts dagegen tun, dass er es nicht ertrug andere glücklich zu sehen. Doch in diesem Moment wollte ihn jemand! In diesem Moment wurde sein Körper gestreichelt und liebkost und das brachte seine Synapsen zum Explodieren. Es war besser, als er es sich immer vorgestellt hatte. Viel besser. Immer wieder griff er nach dem Typen, der ihn von immer mehr Kleidungsstücken befreite. Versuchte ihn ebenfalls anzufassen, doch der Mann im Kapuzenpulli wich seinen Händen sehr geschickt aus. Während er David immer weiter auszog, behielt er seine Kleidung an. Anfangs war David das nicht bewusst, doch je nackter er wurde, umso mehr fiel es ihm auf. Als er nur noch seinen Slip trug, wollte er den Hoodie des Fremden hochschieben, doch der Körper des Mannes zog sich geschmeidig zurück. Mit beiden Händen packte er Davids Hand und schob sie von sich weg. Dann schüttelte er langsam seinen noch immer in der Kapuze steckenden Kopf. Sein Gesicht lag im Dunkeln, aber David verstand, dass er nicht angefasst werden wollte. Umgekehrt war dieser Kerl nicht so schüchtern. Er berührte Davids Körper überall. Aber seine Berührungen waren langsam, zärtlich und hingebungsvoll. Dabei trotzdem kraftvoll, doch nicht ungeduldig oder gar schroff. David hatte das Gefühl der Fremde, der gerade mit den Fingern sanft um seinen Nabel strich, sehnte sich nach seiner Wärme. Konnte es sein, dass er auf den einzigen Mann hier gestoßen war, der sich, wie er, nach echter Nähe sehnte? David genoss die zarten Berührungen. Mit weichen Lippen begann der Fremde scheinbar jeden einzelnen Leberfleck zu küssen, der sich auf Davids Bauch befand, und es waren viele. Er wunderte sich, wie dieser sie bei diesen schwachen Lichtverhältnissen erkennen konnte. Aber sie schienen ihm zu gefallen, so viel Zeit wie er sich für sie nahm, um sie zu liebkosen. Wenn David nur sein Gesicht sehen könnte. In seine Augen blicken könnte, dann könnte er besser beurteilen, wie ihm der Schweigende gesonnen war. Immer wieder versuchte er deshalb, wie zufällig, an seine Kapuze zu stoßen, um sie ein Stück aus dem Gesicht zu schieben. Doch es gelang ihm nicht. Schließlich gab er es auf und gab sich stattdessen ganz den Gefühlen hin, die der Fremde in ihm erzeugte. Dessen zärtlichen Berührungen und heißen Atem, der seine feinen Härchen zum Vibrieren brachte. Dem gewaltigen Potpourri aus überschäumenden Empfindungen. Ein blubberndes Gemisch aus Aufregung, Zuneigung und Angst. Ein Mensch, der solch intensive Gefühle in ihm erwecken konnte, konnte nicht böse sein. Einer, der so gefühlvoll und liebevoll über seine Wangen streichelte, über seinen Bauch. Sich Zeit ließ. Den Kopf auf seine Brust legte und dort verweilte, während er ihm zärtlich den Arm streichelte. Es fühlte sich gut an, streckenweise vertraut, sicher, als würde er ihn kennen. Und er roch so gut, irgendwie süßlich und herb zugleich. Ein Duft den David sicherlich nie vergessen würde, zusammen mit diesem überwältigenden Erlebnis. Die Zärtlichkeit eines Mannes zu bekommen, der ihn nicht kannte. Doch auch seine Kraft gefiel ihm. Die großen Hände, seine starken Arme. Diese Entschlossenheit mit der er ihn ausgesucht und hier ins Gebüsch gezogen hatte. Wie er ihn, als wäre er leicht wie eine Feder, auf die Decke gelegt hatte, seine kräftigen Arme um ihn geschlungen. Jetzt war David gänzlich nackt und seine Haut feucht vor Verlangen. Die Kapuze hielt inne, der Fremde musterte ganz eindeutig seine Statur und sein prall gefülltes Geschlecht, was David zutiefst unangenehm war. Sein Schwanz lag kerzengerade auf seinem Bauch, zuckte vor sehnsüchtiger Erwartung. Endlich wanderte die Kapuze nach unten und David schloss die Augen, schluckte schwer. In seinem Kopf sprudelte ein tosendes Feuerwerk. Wie nach Hilfe schrie seine pochende Eichel danach von diesem Mann angefasst zu werden und versuchte sich aufzurichten. Als David etwas Weiches an seinem Penis spürte, versagten ihm alle Sinne. Aus dem wilden Rausch seiner Empfindungen konnte er nur bruchstückhaft herausspüren, wie sein Schaft von der Hand des Schweigenden umfasst wurde, dessen Atem, wie sein eigener, nun hörbar schneller ging. Während seine Eichel von etwas Warmem, Weichem eingehüllt war, begann sich die Hand zu bewegen. Zuerst langsam, aber in einem regelmäßigen Rhythmus, sodass Davids Gehirn sich immer mehr verabschiedete. Es wurde erst wieder aufmerksamer, als sich die Geschwindigkeit des Rhythmus steigerte. Das Pumpen in seinem zum Zerbersten gefüllten Schwanz passte sich an die Geschwindigkeit der Hand an. In einem dichten Nebel der Erregung wand sich David auf der Decke hin und her, bis er es keine Sekunde länger aushielt und sich nicht mehr zurückhalten konnte. Es blieb ihm nichts anders übrig, als seinen angestauten Saft in druckvollen Schüben in den heißen Mund des Fremden zu spritzen, weil dieser seinen Schwanz nicht losließ. Kurz blitzte ein Gefühl der Scham in David auf, doch es wurde von einem wohligen Kribbeln abgelöst. Einem heftigen Gefühl tiefer Zufriedenheit, wie David es noch nie zuvor verspürt hatte. Winselnd sackte sein aufgebäumter Körper in sich zusammen. Noch bevor das innere Beben des Höhepunkts gänzlich abgeebbt war, und David wieder ins Hier und Jetzt zurückkehren konnte, verschwand der Fremde ohne ein Wort hinter den dichten Sträuchern. Davids Brust stach. In ihr war noch der Nachhall des unglaublichen Glücksgefühls, wie man es nur kurz nach einem Orgasmus verspürt, doch die mächtige Verletzung, die der Typ in diesem Moment in ihm hinterließ, als er sich aus dem Staub machte, stach mitten rein. Er ging einfach. Ließ ihn liegen, nackt und verletzlich. David fühlte sich verraten. Für ein paar Minuten hoffte er noch, der Mann würde zurückkommen. Vielleicht war er zum See gegangen, um sich zu waschen. Doch er kam nicht zurück. Davids Herz schmerzte mit jeder Sekunde mehr, die er sich darüber gewahr wurde, dass der Fremde mit ihm fertig war. Seine Streicheleinheiten waren allesamt nur Theater gewesen. Seine Zärtlichkeit, nur Show, um ihm seine Lust zu entlocken. Und es hatte funktioniert. Davids Körper hatte darauf mächtig reagiert. Und auch sein Herz. Es war ihm nicht bewusst gewesen, dass man so intensiv empfinden konnte. Noch immer zitterte er von dem Beben, das dieser stumme Unbekannte mit seinen Händen, seinen Lippen und seiner Zunge vollbracht hatte. Jetzt fühlte er sich erniedrigt und klein. Der Schmerz dieser Demütigung verstärkte das altbekannte Gefühl in David, vollkommen unsichtbar zu sein, unwichtig, nicht wert sich auch nur ein einziges Mal nach ihm umzusehen. Was der Mann mit der Kapuze auch nicht getan hatte. Er war einfach weggegangen. Langsam sammelte David seine Kleider ein. Die Tränen, die in seine Augen steigen wollten, drängte er zurück. Zynisch fragte er sich selbst, was er erwartet hatte. Dass er hier den Mann fürs Leben finden würde? Verächtlich stieß er die Luft aus. Er war ein solcher Idiot. Der Fremde hatte die Decke dagelassen, wahrscheinlich würde er, wenn David gegangen war, darauf den nächsten Kerl mit seinen Lippen und seiner Zunge glücklich machen. Dieser Gedanke stieß nach. Davids Herz fühlte sich erstochen an. Blutend. Wund. Er wollte nicht einer von vielen sein. Er wollte einzigartig sein, begehrenswert. Er wollte so sein, wie diese Menschen um die sich alle reißen. Diejenigen, denen keiner widerstehen kann, denen andere Menschen hörig sind. Er wollte das für diesen Typen sein, der ihn gerade in den siebten Himmel geschickt hatte, obwohl er nicht einmal sein Gesicht kannte. Doch David war alles andere als das. Er war unsichtbar. Ein weiteres Mal musste er diese schreckliche Erkenntnis verdauen. Sie runterschlucken und weitermachen. Weiterstrampeln in diesem Meer aus oberflächlichen Menschen. Menschen, denen innere Werte gleichgültig sind. Menschen, die ihn nicht sahen, sich nicht darum scherten, was in ihm vorging. Seine Sehnsüchte und Ängste nicht wahrnahmen, oder sie nicht sehen wollten. Wer war er denn? Niemand. „Ist Blue da?“ David nahm das Rascheln der Blätter und die Stimme hinter sich gleichzeitig war und fuhr herum. Einen winzigen Augenblick hoffte er, der Kapuzenmann war zurückgekehrt. „Seid ihr fertig?“ David musste die Tränen zurückdrängen, als er begriff, dass die Frage ihm galt. Er fühlte sich entsetzlich benutzt. Wie ein Stück schmutziges Toilettenpapier, das kein zweites Mal gebraucht werden würde. Er schlüpfte fahrig in seine Hose und streifte sich das, vor Schweiß noch feuchte Shirt über. Während er seine Turnschuhe schnürte, sprach der Kerl, der ihn im Gebüsch aufgestöbert hatte, ungebeten weiter. „Blue is magisch oder? Seine Art, dich auf die Palme zu bringen ist einzigartig. Du bist zum ersten Mal bei ihm gewesen, oder? Ich hab dich hier noch nie gesehen.“ Ein Gesicht erschien zwischen den Ästen. „Eine große Ehre, dass du gleich zum Großmeister durftest.“ Das Gesicht lachte unverhohlen hämisch und David beeilte sich mit seinen Schnürsenkeln. Er war so verdutzt über die Fragen, dass er nur nicken konnte. „Er ist meistens mittwochs hier, also nur, falls du ne Wiederholung brauchst.“ Das Lachen, das der Kerl ausstieß, war dreckig und klang nach vielen Zigaretten und Alkohol. „Aber jetzt verpiss dich, ich mag keine Zuschauer.“ Schockiert über die schroffe Aufforderung wich David zurück. Das stand ihm ganz und gar nicht im Sinn. Er wollte sicher nicht dabei zusehen, wie der zärtliche Kapuzentyp seine liebevollen Berührungen dem Nächstbesten schenkte. Wie am Fließband. Sicher nicht. Davids Magen schmerzte. Dieser wildfremde Typ ohne ein Gesicht hatte es mit seiner außergewöhnlichen Zärtlichkeit wirklich für einen Moment geschafft, dass er sich besonders gefühlt hatte. Gemocht, ja sogar geliebt und begehrt. Doch es war alles nur Show gewesen und er war darauf reingefallen. Wie armselig. Wieder brannten seine Augen und er musste sie zusammendrücken, um den Schmerz zu lindern, und damit er nicht anfing zu heulen. Er hatte wirklich gedacht, er hätte Zuneigung gespürt. Wer legt denn seinen Kopf auf jemandes Brust und streichelt ihn, wenn er nur Sex haben möchte? Doch was wusste er schon von Sex? Und vielleicht hatte er sich das mit der Zärtlichkeit auch nur eingebildet. Wunschdenken. Oder er konnte Lust nicht von Zuneigung unterscheiden. Verwirrt und zutiefst gedemütigt verließ David die winzige Lichtung und machte sich auf dem Heimweg. Der Mann ohne Gesicht und Stimme, der ihn bis zur Ekstase getrieben hatte, war nirgends zu sehen. Überhaupt war niemand zu sehen, nur das Stöhnen im Gebüsch verriet, dass er nicht allein war.